Yolo
der Rezeption – überall begegnen uns Patienten. Sie wirken ältlich. Auch ich fühle mich hier älter als ich bin. Fremd fühle ich mich nicht. Ein gewisses Schicksal scheint uns zu verbinden.
Die Etage mit den Sprechzimmern der Ärzte ignoriert mein Führer. »Hierfür müssen Sie vorher einen Termin haben«, rechtfertigt er sich bedauernd. Dabei habe ich kein Wort gesagt.
Verdutzt bleibe ich am Eingang eines Geräteraums stehen: Ohne jede Aufsicht strampelt sich hier ein Patient zu Tode; klatschnass das T -Shirt, über der Glatze zwei verklebte Haarsträhnen, der Körper schräg übers Lenkrad gebeugt, von seiner Selbstkasteiung so absorbiert, dass unser Gruß ihn erschreckt. Mit hochrotem schweißnassen Gesicht keucht er »hallo«.
»Wird dieser Mann denn nicht betreut, wo ist sein Therapeut?«
»Das ist ein Burn-out-Patient, die dürfen hier alleine trainieren.«
»Kennt in dieser Klinik eigentlich jeder Angestellte die Krankengeschichten der Patienten?«
Meine Frage ist dem Portier peinlich. Wie ein ertapptes Kind sagt er umgehend: »Der Mann am Fitnessgerät wohnt zwei Dörfer weiter, ich …«
»Kennen Sie den«, sage ich zum verlegenen Portier, »als ein sexbesessener Mann stirbt, lässt ihn die Frau aus Wut über seine stete Untreue nackt begraben. Nach einer Weile tut es ihr leid; sie lässt ihn ausgraben, um ihm ein Totenhemd anzuziehen. Aber im Sarg ist nur ein Zettel: Bin zwei Gräber weiter, bei Frau Schneiter.«
Nun blickt mich der Portier an, als wäre ich nicht normal. Dabei will ich mit dem Witzchen doch nur unterstreichen, dass ich ganz normal bin.
Den restlichen Rundgang bringen wir im Eiltempo hinter uns. Vor der Bibliothek soll ich einen Moment warten, er holt
unsere Wirtin
.
Und schon steht die Wirtin vor mir, eine rundliche Frau mit tiefschwarz gefärbtem Haar, roten Wangen und einem Busen, der in seiner Fülle bis zur Taille reicht. Nach ihrem »Willkommen in unserer Klinik!« blicken die Patienten neugierig zu mir, denken sich ihren Teil, ohne dass ich mich wehren kann. Niemand sitzt am großen runden Tisch; hier sitzt jeder für sich, die Zeitung vor sich, ein Buch oder gar nichts. Aus dem Hintergrund lächelt mich eine Patientin an, ältlich, jugendlich zurechtgemacht. Aber ich will mich nicht zu ihr setzen, auch wenn die Wirtin sagt, »das ist Madame Grandjean, sie spricht gut deutsch.«
Madame Grandjean, von Kopf bis Fuß auf Mode eingestellt, kommt auf uns zu, verneigt sich à la japonaise, »enchantée ma belle, comment allez-vous?«
»Merci, très bien, merci.«
Ein Anfall von Entzückung verführt die zartgliedrige Madame zu einem Wortschwall, dem ich einzig entnehme, dass ich kaum mehr französisch kann. Sie wechselt ins Deutsch: »La bibliothèque ist gleischzeitig ein Ort für Schpiile. Memory, Patience oder Jeux de cartes, isch liebe Memory, parceque …«
Die Wirtin unterbricht Grandjean und zieht mich weg: »Verzeihen Sie, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt, ich heiße Trude, Trude Meier, sagen Sie ruhig Trude zu mir.«
Links schielt sie leicht, ihre Stimme ist laut und bestimmt. »Also, noch ein paar Worte zu meinem Reich. Im Moment ist es hier drin zwar eher ruhig, aber manchmal ist ganz nett Betrieb, die Patienten unterhalten sich oder … Spielen Sie Schach? Aber sicher. Und sicher lesen Sie auch gerne Tageszeitungen. Ab neun finden Sie bei uns verschiedene Zeitungen, und nachmittags um drei wird aus der Bibliothek ein gemütlicher Tea-Room, so wie jetzt.«
Von Gemütlichkeit ist nichts zu spüren, aber nach Kaffee riecht es tatsächlich.
»Täglich haben wir frische Backwaren. Die Schokoladenkekse kann ich besonders empfehlen. Sie müssen ja nicht auf Ihre Linie achten, aber warten Sie ab, bis Sie mal in meinem Alter sind!«
Ich bemühe mich, ihr schielendes Auge zu ignorieren.
Nun sitze ich mit einer Tasse Cappuccino doch bei dieser Madame Grandjean, die unentwegt parliert. Sie schätzt mich erst um die dreißig, staunt jedoch nicht, als ich »in zwei Jahren vierzig« bekenne. »La vie est belle, nischt wahr«, sagt sie. Macht sie sich über mich lustig?
Ich sacke im Verlaufe des Nachmittags immer mehr ab, esse sämtliche mitgebrachten Pralinen, mache Sudokus, schließlich lege ich mich aufs Bett. Voll von jener Sehnsucht, die in ein anderes Leben reicht. In welches? In das von früher?
Die Studienjahre waren meine besten Jahre. Ich war glücklich und glaubte, Glück sei unerschöpflich und Alessandro nicht einzig auf dieser Welt. Also
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