Ysobel – Das Herz aus Diamant
unersetzliche Kleinod?« murmelte sie, eher um den eigenen Gedanken zu entfliehen, denn um das Rätsel zu lösen. »Das Kreuz von Ys ist ein Heiligtum unseres Volkes! Wo sind die anderen Sterne von Armor, die es schmücken?«
»Fort!«, entgegnete die Äbtissin unwirsch. »Ich habe sie den anderen Novizinnen gegeben. Sie haben das Gelübde nicht abgelegt. Sie müssen diesem schrecklichen Symbol der Macht keinen Tropfen ihres Blutes opfern. Es hätte schon vor Generationen vernichtet werden sollen. Eine dumme Schwäche, für die einmal mehr die frommen Frauen von Sainte Anne die Zeche zahlen müssen. Aber ich werde nicht zulassen, dass die Mordbrenner auch nur ein Gran Gold aus diesem Kreuz für ihre Zwecke erbeuten! Es muss für immer aus dem Gedächtnis der Menschen entschwinden. Auch du sollst deinen Anteil haben! Der Diamant gehört dir! Sobald ich ihn aus der Fassung gelöst habe, nimmst du ihn an dich und fliehst aus diesem Kloster. Hörst du die Rammböcke am großen Mauertor? Die Schreie der Söldner? Sie behaupten, eine Schlacht zu schlagen, aber sie kommen auf der Suche nach diesem Teufelsding ... Paskal Cocherel, der Schurke von St. Cado, führt sie an, und er kennt kein Erbarmen!«
»Nein!« Ysobel hielt trotzdem die Hand mit dem Meißel erneut fest. »Dazu habt Ihr kein Recht!«
»Dann nimm das Kreuz mitsamt dem Stein und tu damit, was du möchtest«, gab Mutter Elissa überraschend nach. »Wenn du einen verschwiegenen Goldschmied findest oder einen reichen Händler, ist deine Zukunft gesichert. Hoffe nicht auf deine Familie. Sie hat dich in dieses Kloster abgeschoben, damit du für immer aus ihren Augen verschwindest! Hätten sie die Macht, dich hier festzuhalten, sie würden es tun! Sogar um den Preis deines Lebens!«
Die Äbtissin wusste auch ohne Werkzeug zuzuschlagen. Ysobel zuckte zusammen. Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit Gratien de Locronan seine dreizehnjährige, verzweifelte Schwester in die Obhut der Nonnen von Sainte Anne gegeben hatte. Unendlich weit weg von der heimatlichen Burg und dem sorglosen Leben, das sie kannte. War es möglich, dass sie nach all dieser Zeit immer noch hoffte, er würde sich ihrer erinnern und sie nach Hause holen? Hatte sie sich deswegen über all die Jahre hinweg hartnäckig geweigert, das endgültige Gelübde abzulegen?
Dennoch zögerte die junge Frau, das Kreuz anzunehmen. Nichts würde sein wie zuvor, sobald sie es in ihren Händen hielt, das wusste sie mit absoluter Sicherheit. Sie spürte förmlich die Spannung, die in der Luft lag. Die kleinen Härchen in ihrem Nacken sträubten sich, ihr Herz schlug heftig. Das Haus Locronan führte seine Wurzeln in direkter Linie auf König Gradlon zurück – verlieh ihr dies ein Recht auf dieses Schmuckstück?
»Nimm und geh!« Mutter Elissa packte das schwere Kreuz und legte es in ihre Finger. »Geh und bring dich in Sicherheit! Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie die Mauern überwinden und die Riegel aufsprengen!«
Ysobel stolperte wie blind die Stufen aus der Krypta in das Dämmerlicht des einfachen Gotteshauses hinauf. Die Nonnen hatten sich nach dem Mittagsmahl zum Gebet vor dem Altar versammelt, nachdem der erste Lärm der Schlacht von Auray bis zu ihnen gedrungen war. Inzwischen bildete ihr leises »Erbarme dich, o Herr!« nur noch einen tragischen Unterton zum Donnergrollen des Gemetzels.
Vor den Mauern der Stadt kämpfte Jean de Montfort, der Bruder des verstorbenen Herzogs der Bretagne, gegen Charles von Blois, den Gatten seiner Kusine, um die Herrschaft über das ausgeblutete und zerstörte Land. Unterstützt von englischen Truppen und Söldnern wollte er den Sieg dieses Mal mit Gewalt erzwingen.
Ysobel spürte das Gewicht des goldenen Kreuzes wie eine stetige Mahnung in ihrer Hand. Der Geruch von Weihrauch mischte sich mit dem Talgduft der Kerzen und dem unverkennbaren Aroma von Angst und Schweiß. Die Schwestern wussten keinen anderen Rat, als zu beten, aber nicht einmal die weltfremdeste unter ihnen rechnete noch mit himmlischer Hilfe. Das kleine Kloster der heiligen Anna im Wald von Auray war dem Untergang geweiht.
Eine Welle der Gewalt hatte die Klostermauern erreicht und durchbrach die Dämme ihrer frommen Zurückgezogenheit wie jene der Stadt Ys. Eine Sturmflut, die auch Ysobel de Locronans frommes, ereignisloses Leben mit sich riss.
1. Kapitel
Ysobel! Ysobel! Nichtsnutziges Frauenzimmer! Na warte, wenn ich dich finde, werde ich dir zeigen, was es heißt, sich vor der Arbeit zu
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