Ysobel – Das Herz aus Diamant
verlassen hatte. Halb im Schatten verborgen, bot er ihr das unvollständige Bild eines sehnigen Männerkörpers in weiten Fischerhosen und einem ausgeblichenen grauen Leinenwams, dessen Bänder offen im Winde baumelten. Vor der Brust verschränkte Arme deuteten eine Lässigkeit an, der die gespannten Arm- und Halsmuskeln ebenso widersprachen wie die Kraft, mit der er seine bloßen Füße im Sand verankert hatte.
Der Kopf mit den dunklen Haaren verschwamm im Dunkel des überhängenden Felsens, und Ysobel unterdrückte einen Schauer. Für einen Herzschlag kam es ihr vor, als würde sie sich das alles nur einbilden.
»Bist du stumm?« In seinen Worten schwang Spott mit. Offensichtlich hielt er sie für eines der Mädchen aus den Fischerdörfern rund um die Bucht. Sie dachte nicht daran, diesen Irrtum zu korrigieren.
»Stumm nicht«, widersprach sie knapp. »Aber auch nicht bereit, mit jedem Tölpel zu tratschen, der sich für einen Ausbund an Witz hält.«
»Also doch Dahut, die für einen normalen Sterblichen nur Verachtung übrig hat ...«
Ysobel nahm das ohnehin schon stolze Kinn noch eine Spur höher. Sie war nicht besonders geübt darin, mit Worten zu spielen. Im Kloster hatte sie sich anfangs schwergetan, das Schweigen zu lernen, aber nun entdeckte sie, dass die Unterweisung zu gründlich gewirkt hatte. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
Sie beobachtete den Mann aus schmalen Augen, und als er nun einen Schritt nach vorne tat, wich sie ihrerseits einen nach hinten zurück.
»Du musst keine Angst haben ...«
»Ich habe nie Angst!«, entgegnete Ysobel ohne nachzudenken und straffte die Schultern.
Die Bewegung brachte den Fremden vollends in das Sonnenlicht, und nun wirkte er endlich wie ein lebendiger Mensch. Sie sah in ein kantiges junges Männergesicht, das die römisch-klassischen Züge der Männer trug, die vor vielen hundert Jahren Gallien und seine Provinzen erobert hatten. Unter dichten dunklen Brauen musterten sie Augen vom tiefen Blau des Meeres. Die ebenmäßige, scharfe Linie der geraden Nase senkte sich auf einen schön geschwungenen Mund, der sich nun spöttisch verzog. Die Wangen und das energische Kinn mit der kleinen Kerbe in der Mitte waren erstaunlicherweise sorgfältig rasiert. Ein Fischer?
Ein Fischer, der mit dem Rasiermesser umgehen konnte? Hatte sich die Welt so verändert, während sie in Sainte Anne gewesen war, dass sich jetzt sogar gemeine Männer den Bart abschoren? Nein, dieser Mann, der so groß war, dass sie zu ihm aufschauen musste, war kein gewöhnlicher Dorfbewohner, das wusste sie intuitiv.
»Du wohnst nicht in den Hütten«, sagte er schließlich, nachdem auch er sie einer gründlichen Musterung unterzogen hatte. »Gehörst du zur Burg? Bist du eine der Mägde, die der Dame von Locronan Gehorsam schulden?«
»Was geht’s dich an ...«, murmelte sie spröde. Sie bemühte sich, auf Distanz zu gehen, aber er überwand sie spielerisch, indem er sie in ungenierter Vertraulichkeit bei den Schultern fasste.
Ysobel erstarrte unter diesem Griff. Sie konnte sich nur allzugut daran erinnern, wann sie das letzte Mal gegen ihren Willen von einem anderen Menschen berührt worden war. Die Erinnerung verdunkelte ihre Augen, doch ansonsten blieb ihre Miene ohne Regung. Dennoch schien der Fremde das heimliche Echo jenes tödlichen Schreckens zu fühlen, der sie kaum merklich durchrieselte.
»Ich will dir nicht weh tun, Mignonne«, raunte er sanft, und seine Stimme drang wie wärmende Sonne durch die Kälte ihres Schocks. »Du gefällst mir! Willst du mir nicht sagen, wie du heißt?«
Mit einem Ruck befreite sie sich aus dem Griff. Gleichzeitig bekämpfte sie den kindischen Wunsch, ihm alles zu sagen, was er hören wollte, nur damit er noch länger mit ihr sprach. Damit er sie mit diesem seltsamen Blick ansah, der bis in die Tiefen ihres Seins reichte und dort ein eigenartiges Gefühl der Zufriedenheit verbreitete.
»Ysobel«, erwiderte sie leise, und als keine Reaktion von ihm kam, fügte sie noch einmal hinzu: »Man nennt mich Ysobel!« Dass sie noch Marie Marguerite nach ihrer Mutter und Helene nach ihrer Großmutter hieß und zudem den Titel einer ehrenwerten Demoiselle von Locronan trug, verschwieg sie indes.
Trotzdem zog er seine Schlüsse aus dem Namen, der nicht zur Tochter eines Fischers, eines Handwerkers oder gar eines Tagelöhners passen wollte. Es war der Name einer Edeldame oder – sein prüfender Blick glitt über die schäbigen Kleider – der eines armen
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