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Zaehme mich

Zaehme mich

Titel: Zaehme mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Maguire
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Vielleicht weil du in der letzten Stunde immer die ganze Zeit an deinen Haaren rumfummelst.
    Und alle zwanzig Sekunden schaust du auf die Uhr, und wenn es dann läutet, bist du wie der Blitz aus der Tür.«
    »Stimmt gar nicht.«
    Er zog die Augenbrauen hoch. »Gestern Nachmittag hast du in einer halben Stunde viermal deinen Zopf neu geflochten.«
    Mr. Carr spielte gern mit ihrem Haar. Manchmal benutzte er ihren Pferdeschwanz als eine Art Leine, an der er ihren Kopf in die gewünschte Richtung zog, und wenn sie auf beiden Seiten Zöpfe trug, hielt er sie wie Zügel in der Hand. Gestern erst hatte er sich ihren Zopf um den Schwanz gewickelt, und später musste sie ihr Haar über seinen Körper streichen lassen.
    »Ha, du wirst rot! Warum willst du mir nichts erzählen?
    Ich dachte, wir sind Freunde.«
    »Klar sind wir Freunde, Jamie, es ist nur …« Sie hielt inne, um sich zu vergewissern, dass niemand in Hörweite war. »Niemand darf etwas davon erfahren, okay?«
    »Okay.«
    »Das meine ich ernst. Wenn es jemand rausfindet, gibt es Ärger, Riesenärger. Dass jemand in den Knast muss –
    so eine Art von Ärger.«
    Jamie lachte. »Und du sagst, dass bei Jess alles so dramatisch ist! Wieso soll jemand in den Knast müssen, bloß weil …« Er blinzelte. »Kapier ich nicht.«
    »Weil ich minderjährig bin und er Lehrer ist.« Ihr Lächeln ließ sich nicht unterdrücken, obwohl sie genau wusste, wie ernst die Sache war.
    »Was? Willst du mich verkohlen?« Er blinzelte schneller. »Soll das ein Witz sein?«
    »Nein. Seit ein paar Wochen treffe ich mich jeden Tag nach der Schule mit Mr. Carr. Ich habe ein Verhältnis mit ihm.«
    Jamie hörte nicht auf zu blinzeln. Dann schüttelte er den Kopf und boxte ihr die Schulter. »Doofe Nuss, eine Sekunde lang hätte ich es dir fast abgenommen.«

4
    Obwohl Mr. Carr Sarah weiterhin davor warnte, ihr Geheimnis preiszugeben, kokettierte er – auf aufregende Weise! – damit, sich selbst zu entlarven. Einmal ließ er ihr vom Büroboten mitten in der Mathematikstunde einen Umschlag überbringen, auf dem stand: »Öffentlicher Sprechwettbewerb Bewerbungsformular«. Der Text der Nachricht lautete: »Dein Gesicht, verzerrt vor qualvoller Wonne, erschien gerade ungebeten vor meinem inneren Auge. Vor Lust entbrannt sitze ich hier, gefangen hinter meinem Schreibtisch.« In einer anderen Notiz, die ihr im Englischunterricht auf den Tisch flatterte, während sie tief in Gedanken an ihrem Stift kaute, hieß es: »Oh, wie gern wäre ich dieser Kugelschreiber.« Manchmal, wenn er im Gang an ihr vorbeikam, streifte er ihren Hintern oder Busen, flüsterte ihr leise obszöne oder romantische Worte zu.
    Als ihre Affäre gerade zwei Monate alt war, hielt Sarah vor der Klasse ein Referat über Emily Dickinson: eine Dichterin, die nach Mr. Carrs Meinung aus dem literarischen Kanon verbannt gehörte. Sarah fasste das als persönliche Beleidigung auf und war entschlossen, ihn zu bekehren. Während ihre Klassenkameraden hinten im Zimmer vor sich hin dösten, kleine Nachrichten kursieren ließen oder heimlich Musik aus einem Walkman im Federmäppchen hörten, trat Sarah voller Leidenschaft für die Bedeutung von Emily Dickinson ein. Mr. Carr hörte ihr aufmerksam zu und unterbrach sie nur dann und wann, um etwas zu klären oder eine Frage zu stellen. »Sie haben Dickinson als komisch beschrieben. Ich bin mir da nicht so sicher. Können Sie uns vielleicht ein Beispiel geben?«
    »Selbstverständlich.« Sarah schaute ihm in die Augen und rezitierte:
    Mancher Wahn ist göttlichster Sinn –
    Für ein scharfsichtiges Auge –
    Mancher Sinn – der reinste Wahn –
    ’s ist die Mehrheit,
    Die auch hierin vorherrscht –
    Stimm zu – und du bist gesund –
    Lehn ab – du bist geradezu gefährlich –
    Und man legt dich an die Kette.
    Mit einem Lächeln klatschte er ihr langsam Beifall. »Sehr beeindruckend, doch vielleicht wäre ironisch zutreffender als komisch? Und überhaupt ist Ihre These doch etwas provokant. Ketten als Strafe für Widerspruch? Aber, aber, Sarah.«
    Sarah spürte, dass ihr Gesicht ganz heiß wurde. Sie wandte den Blick ab, hin zur Klasse, doch niemand –
    außer Jamie, der mit großen Augen und offenem Mund Mr. Carr anstarrte, ohne dass dieser etwas davon bemerkte
    – schien seine Worte mitbekommen zu haben. Es interessierte sie nicht, wenn sich die zickige Sarah Clark mit dem langweiligen Mr. Carr über die Gedichte von irgendeiner toten alten Kuh stritt; sie hatten keine Ahnung,

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