Zauber einer Winternacht
Gabriels Hütte gesehen hatte.
Eigenartigerweise konnte sie ihn sogar hören, den in der Ferne rauschenden und gegen den Strand brandenden Ozean, obwohl ein Teil von ihr genau wusste, dass sie sich in den Bergen befand.
Sie schritt durch einen perlmuttfarbenen Nebel und lauschte den Wellen. Sie fühlte sich sicher und stark und irgendwie von jeder Last befreit. So frei, so vollkommen entspannt hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Sie wusste, dass sie träumte. Das war das Beste daran. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie die Augen geschlossen gehalten, um für immer zu träumen, den Frieden zu genießen, sich der weich gezeichneten Fantasie hinzugeben.
Doch dann weinte das Baby. Es schrie geradezu. An ihrer Schläfe begann eine Ader fast schmerzhaft zu pulsieren, während sie dem schrillen Wehklagen des Kindes lauschte. Der Schweiß brach ihr aus, und der klare weiße Nebel wurde grau, bedrohlich grau. Die Luft war nicht mehr warm, sondern eisig, und drang ihr bis in die Knochen.
Das Weinen schien von überall und nirgends zu kommen. Sie tastete sich verzweifelt durch die widerhallenden Echos, die von allen Seiten auf sie eindrangen. Schluchzend und um Atem ringend kämpfte sie sich durch die Nebelschwaden, die immer dichter und einengender wurden. Das Schreien wurde lauter, dringlicher. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, ihr Atem kam rasselnd, und ihre Hände zitterten.
Dann sah sie den Kinderkorb mit dem blütenweißen Stoff, den Stickereien und Rüschen in Pink und Blau. Die Erleichterung war so groß, dass ihr die Knie weich wurden.
»Es ist alles gut«, murmelte sie, als sie das Kind in die Arme nahm. »Es ist ja alles gut. Ich bin jetzt bei dir.« Sie spürte den warmen Atem des Babys an ihrer Wange, fühlte sein Gewicht, während sie es beruhigend und tröstend hin und her schaukelte. Der milde Duft des Puders umfing sie. Liebkosungen flüsternd presste sie das Baby fester an sich. Dann zog sie ihm die Decke vom Gesicht, um es anzusehen.
Und dann hielt sie plötzlich nichts als die leere Decke in den Armen.
Gabriel saß am Picknicktisch und dachte an Laura, während er mit sicheren Strichen ihr Gesicht zeichnete. Als er sie aufschreien hörte, zuckte er zusammen. Der Bleistift zerbrach in zwei Teile, bevor er aufsprang und ins Schlafzimmer raste, wo sie noch immer verzweifelt stöhnte.
»He, kommen Sie.« Er war unsicher, was er tun sollte. Doch dann griff er nach ihren Schultern. Sie wich zurück und wehrte sich so heftig gegen seine Berührung, dass er seine und ihre Panik bekämpfen musste, um nicht vorzeitig aufzugeben. »Immer mit der Ruhe, Laura. Haben Sie Schmerzen? Ist es das Baby? Laura, sagen Sie mir, was los ist.«
»Sie haben mir mein Baby weggenommen!« Ihre Stimme hatte einen hysterischen Unterton, aber es war eine mit Wut vermischte Hysterie. »Helfen Sie mir! Sie haben mein Baby mitgenommen!«
»Niemand hat Ihr Baby mitgenommen.« Sie wehrte sich noch immer, mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte. Ohne weiter nachzudenken, zog er sie in die Arme. »Sie träumen. Niemand hat Ihr Baby mitgenommen. Hier, sehen Sie.« Er legte die Finger um ihr Handgelenk, in dem der Puls wie ein Presslufthammer schlug, und zog ihre Hand auf ihren Bauch. »Sie sind in Sicherheit, Sie und das Baby. Entspannen Sie sich, sonst tun Sie sich noch weh.«
Als sie das ungeborene Leben unter ihrer Handfläche spürte, sank sie in Gabriels Armen zusammen, entspannte sich. Ihr Baby war in Sicherheit, in ihrem Körper, wo ihm niemand etwas tun konnte. »Es tut mir leid. Ich habe geträumt.«
»Das ist schon in Ordnung.« Ohne dass er sich dessen bewusst war, strich er ihr beruhigend übers Haar, schaukelte sie sanft hin und her, so wie sie es mit dem erträumten Kind getan hatte. »Tun Sie uns beiden den Gefallen und entspannen Sie sich.«
Sie nickte, kam sich jetzt wieder geborgen und beschützt vor. Dieses Gefühl hatte sie in den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens äußerst selten empfunden. »Mir geht es gut. Wirklich. Wahrscheinlich ist es nur der Schock vom Unfall, der mich eingeholt hat.«
Er schob sie behutsam von sich. Vor dem Fenster herrschte noch immer dichtes Schneegestöber, und nur durch die Tür zum Hauptraum drang Licht ins Schlafzimmer. Es war leicht gelblich und nicht sehr hell, aber er sah sie deutlich vor sich. Und er wollte, dass sie ihn ebenfalls sah. Er brauchte Antworten, und er brauchte sie jetzt.
»Lügen Sie mich nicht an. Unter normalen Umständen
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