Zebraland
Nichts, nichts auf der Welt hätte mich dazu gebracht, auf dieses Festival zu fahren. Aber damals wusste ich noch nicht, wie die Normalität von einer Sekunde auf die andere zu etwas Ungeheuerlichem werden kann.«
Ich erinnere mich noch, wie nervös ich an diesem Tag war. Schließlich sollte es der erste Auftritt der Sons of the Rastaman werden. Und es war etwas ganz anderes, auf Feten vor Freunden zu jammen, als vor unbekanntem Publikum!
Während ich das Treppenhaus hinunterlief, ging ich im Kopf alle Stücke durch, die wir an dem Abend spielen wollten. Draußen vor dem Wohnblock, bei den Fahrradständern, prallte ich plötzlich mit jemandem zusammen.
Es war Zebra.
Eigentlich hieß sie Yasmin. Aber alle nannten sie Zebra, weil sie immer dieses gestreifte Kopftuch trug.
Durch unseren Zusammenstoß war es ein wenig verrutscht. Mit einer kleinen, automatischen Handbewegung zog Yasmin das Kopftuch gerade, sodass es wieder ihren Haaransatz verdeckte. Ihre Finger zitterten.
Ich entschuldigte mich. »Alles in Ordnung?«, fragte ich zögernd. Wir saßen zwar in der Schule im selben Kunstkurs, aber sonst hatten wir nichts miteinander zu tun.
»Ja«, antwortete Yasmin mit dem Gesicht zur Wand. Aber ich hatte bereits gesehen, dass ihre Wimperntusche verlaufen war. Mit einer plötzlichen Bewegung wandte sie sich mir wieder zu. Sie hatte wirklich geheult.
»Nein, eigentlich ist nicht alles in Ordnung«, sagte sie und deutete auf den Wohnblock nebenan, in dem ihre Familie lebte. »Ich habe mich gerade schrecklich mit meinem Bruder gezofft.«
Das wunderte mich etwas. Murad war auch auf unserer Schule, zwei Stufen unter uns. Bisher war der mir immer ganz friedfertig vorgekommen.
Doch dann kam heraus, dass sie sich nicht mit ihm gestritten hatte, sondern mit Kerim, ihrem älteren Bruder. »Kerim sag t … na ja, ist ja auch egal.« Yasmin verstummte. Offensichtlich wollte sie den Grund ihres Streits für sich behalten. Sie kramte in einer kleinen weißen Handtasche mit kurzen Henkeln und fischte die Stöpsel eines MP 3-Players heraus.
»Musik hören hilft mir, mich abzuregen«, erklärte sie. »Ich drehe einfach die Lautstärke voll auf und scho n … Willst du mal hören?« Yasmin hielt mir einen Ohrstöpsel hin.
»Klar«, sagte ich überrascht und steckte mir das Ding ins Ohr. Durch das Kabel des MP 3-Players verbunden lauschten wir. Es war eine Art türkischer Pop. Der Gesang hörte sich fremd und melodisch an.
»Klingt irgendwie traurig. Wovon handelt das Lied?«, fragte ich.
»Unglückliche Liebe«, antwortete Yasmin und lächelte. »Ich liebe traurige Liebeslieder. Singst du auch?« Sie deutete auf meinen Gitarrenkoffer, den ich über der Schulter trug.
Warum wollten auf einmal alle, dass ich singe?! Die wahren Götter der Musikwelt sind die Männer mit den Gitarren, nicht die, die im Vordergrund rumblöken.
»Nö. Warum?«, brummte ich und gab ihr die Ohrstöpsel zurück.
»Nur so. Du hast eine angenehme Stimme. So tief.«
Okay, vielleicht war ich ein bisschen geschmeichelt. Ich erzählte ihr von unserem Auftritt. Sie hatte sogar schon mal von den Sons of the Rastaman gehört und wusste, dass wir hauptsächlich Sachen von Bob Marley spielten.
»Reggae ist nicht so meine Richtung. Aber ich mag diesen Son g …« Yasmin summte ihn mir vor. Sie traf die Töne gut, ich erkannte die Melodie sofort.
Es war Redemption Song .
»Ja, der ist wirklich schön. Aber den kann ich nicht spielen«, gab ich zu.
»Schade. Den würde ich gerne mal hören«, sagte Yasmin. »Na ja, ich muss dann mal los. Will noch nach Distelfelde.« Sie setzte einen Helm auf und schloss ihr altes rotes Moped los. »Mistding«, murmelte Yasmin. »Das Licht ist auch schon wieder kaputt.«
Sie stieg auf. »Ich wünsch dir viel Glück für euren Auftritt«, sagte sie und lächelte. Zwischen ihren Schneidezähnen war eine kleine Lücke, was ihrem Gesicht einen schelmischen Ausdruck verlieh. Mir war vorher nie aufgefallen, was für ein nettes Lächeln sie hatte.
»Mach’s gut, Yasmin«, sagte ich.
Sie trat den Kickstarter durch und knatterte davon.
Mit Elmars VW -Bus, den er in den Reggaefarben Grün, Gelb und Rot angesprüht hatte, brauchten wir ungefähr eine Stunde. Schon von Weitem sahen wir ein Patchwork aus bunten Zelten.
Das eigentliche Festival fand auf dem Gelände eines stillgelegten Kalkwerks statt. Der Geruch von Grillfleisch, Schweiß, Hasch und Dixi-Klos hing in der Luft. Aus einer alten, graffitibesprayten Lagerhalle
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