Zehn Mythen der Krise
die Zukunft, von globalen und regionalen Krisen immer wieder überraschend getroffen wie von schweren Meteoriten aus dem Weltall. Auf der Strecke bleiben die einfachen Menschen – und am Ende die Demokratie.
Wenn die globalisierte Wirtschaft nur noch als ein System verstanden wird, das einigen unglaublichen Reichtum und dem großen Rest im besten Fall Stagnation oder ein kümmerliches Auskommen bietet, ist die Demokratie in Gefahr. Demokratie bedeutet in den Augen der meisten Menschen nicht allein, dass sie alle vier Jahre wählen dürfen und dazwischen ertragen müssen, was die neoliberale Agenda ihnen abverlangt. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 haben viele verstanden, dass die Hoffnung auf ein Ende der Euphorie an den Finanzmärkten und darauf, dass der Reichtum einiger weniger schließlich auch ihnen nutzen würde, eine große Illusion war. Die zweite Krise, die gerade beginnt, wird ihnen nun auch noch die Hoffnung nehmen, wenigstens der demokratische Staat sei in der Lage, die Dinge in die richtige Richtung zu lenken. Aber was dann?
Dann ist das Tor weit offen für Rattenfänger aller Art. Vor allem solche aber werden erfolgreich sein, die aus einem Scheitern der Globalisierung Kapital zu schlagen versuchen. Denn was kommt nach der Ära der Globalisierung? Die sozusagen natürliche Antwort wäre die Rückbesinnung auf den Nationalstaat. Das müsste nicht schlecht sein, wenn es einfache, tolerante Wege gäbe, die globalisierte Welt ein Stück weit zu renationalisieren und sie auf diese Weise politisch wieder besser handhabbar zu machen. Doch solche einfachen, toleranten Wege kann es nicht geben in einer Welt, in der sehr viele Menschen ihre Heimat verlassen und ihr Schicksal auf die globalisierte Wirtschaft verwettet haben. In der Hoffnung, ihnen würde wegen des wirtschaftlichen Erfolges aller Bevölkerungsteile am Ende die Anerkennung als gleichberechtigte Bürger nicht verweigert, sind sie aus ihren Heimatländern ausgewandert und drohen so zu den eigentlichen Opfern des Versagens der internationalen Koordination zu werden.
Wenn die Zeichen, die in Europa und in den USA an der Wand stehen, nicht trügen, werden die neuen rechten Bewegungen, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen, nicht dabei stehen bleiben, die aktuelle Form der Globalisierung für alle Sorgen der Menschen verantwortlich zu machen. Sie werden einen oder mehrere Schritte weiter gehen und die »Anderen« zu Schuldigen erklären. So, wie das politische Europa sich über die Zeit rettet, indem es »Schuldige« ausmacht und an den Pranger stellt, so werden sie die »Ausländer« und die ausländischen Einflüsse verantwortlich machen, und viele Menschen werden ihnen folgen, weil sie zu Recht nicht einsehen, weshalb sie persönlich eine Mitschuld am großen Scheitern tragen sollen. Zwar wird auch die populistische Strategie der Rechten die Welt ökonomisch nicht erfolgreicher machen, weil ein Nationalstaat, der eine ungeeignete Theorie anwendet, ökonomisch ebenso wenig einen Fuß auf die Erde bekommt wie die globale Wirtschaft. Ob die Demokratie das alles überlebt, ist aber eine offene Frage.
In hundert Jahren wird man nach Erklärungen für das politische und ökonomische Scheitern am Beginn des 21. Jahrhunderts suchen. Man wird sagen, der mangelnde politische Wille, eine globalisierte Wirtschaft mit vereinten Kräften zu steuern, sei die wichtigste Ursache gewesen. Dass es unsere mangelnde Fähigkeit gewesen sein könnte, komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen, und unsere mangelnde Bereitschaft, sie unideologisch in Politik umzusetzen, wird einmal mehr – wie schon im Hinblick auf die Situation zu Beginn des letzten Jahrhunderts – niemand glauben. Die Historiker werden nach Fakten suchen, nicht nach fehlenden Ideen. So bleibt die Hoffnung auf eine neue kritische Generation, die sich nicht mit Phrasen abspeisen lässt, sondern den Dingen ohne Kompromisse und mit der dem Menschen gegebenen Fähigkeit zu logischem Denken auf den Grund zu gehen versucht. Vielleicht haben wir ihre Anfänge auf dem Tahrir-Platz in Kairo, im Zuccotti Park von New York und auf der Plaza Italia in Santiago de Chile schon gesehen.
Ich will an dieser Stelle nicht versuchen darzulegen, welche konkreten Vorschläge aus meinen Überlegungen folgen. Das habe ich an anderer Stelle im Detail getan, ohne dass diese Vorschläge in der nötigen Breite aufgegriffen worden wären. Es geht heute vielmehr darum, innezuhalten, den Zeitdruck und die
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