Zeit deines Lebens
Flughafen fest, musste noch dringend irgendwelchen Papierkram erledigen oder kam im wahnsinnigen Weihnachtsverkehr nicht schneller voran. Also befand er sich, wie durch Zauberei, an zwei Orten gleichzeitig.
Bei Lou Suffern überlappte sich alles, er war immer in Bewegung, immer auf dem Sprung und unterwegs nach anderswo. Wenn er sich mit jemandem traf, verbrachte er gerade so viel Zeit wie nötig mit dem Betreffenden, schaffte es aber, bei seinem Gegenüber trotzdem ein zufriedenes Gefühl zu hinterlassen. Er war gewissenhaft, pünktlich und in seinem Beruf ein meisterhafter Zeitmesser. Doch im normalen, privaten Leben benahm er sich wie eine kaputte Taschenuhr. In seinem Streben nach Vollkommenheit und Erfolg verfügte er über scheinbar grenzenlose Energien. Doch genau das – sein Perfektionismus, sein Ehrgeiz, seine immer höher gesteckten Ziele – führte dazu, dass er in diesem ständigen Höhenflug das Allerwichtigste aus den Augen verlor. In seinem Terminplan war kein Zeitfenster für diejenigen eingeplant, die ihm auf vielerlei Weise hätten mehr geben und größere Zufriedenheit schenken {33 } können als irgendein noch so sagenhafter neuer Geschäftsabschluss.
An einem besonders kalten Dienstagmorgen schlenderten Lous schwarze, blitzblankpolierte Lederschuhe selbstbewusst durch das sich rasant entwickelnde Dubliner Hafengebiet und gerieten dabei ins Blickfeld eines besonderen Mannes. Dieser Mann beobachtete die Schuhe an diesem Morgen genauso aufmerksam, wie er es tags zuvor getan hatte und es vermutlich am nächsten Tag wieder tun würde. Die beiden Schuhe waren einander absolut ebenbürtig, keiner von beiden drängte sich vor, jeder Schritt war exakt gleich lang und die Ferse-Zehen-Abstimmung absolut präzise: Die Schuhspitzen zeigten nach vorn, die Ferse setzte als Erste auf, der Fuß rollte nach vorn auf den Ballen, die Zehen stießen sich ab, der Knöchel wurde gebeugt. Perfekt, jedes Mal. Rhythmisch bewegten sich die Schuhe übers Pflaster, ohne Stampfen oder erdbebenhafte Erschütterungen, wie es bei den anderen Kopflosen, die um diese Zeit – noch im Halbschlaf, obwohl sich ihr Körper bereits an der frischen Luft befand – vorüberhasteten. Nein, diese Schuhe brachten lediglich ein gleichmäßiges Klackgeräusch hervor, das so eindringlich war wie der Regen auf dem Dach des Wintergartens, und der Saum der Hose flappte wie die Fahne am achtzehnten Loch in einer leichten Brise.
Der Beobachter erwartete fast, dass die Pflastersteine aufleuchteten, wenn diese Schuhe sie berührten, und ihr Eigentümer vor Freude über den prima-prachtvollen Tag einen Stepptanz vollführte. Für den Beobachter jedenfalls würde der Tag mit Sicherheit prima und prachtvoll werden.
Normalerweise schwebten die glänzendpolierten schwarzen {34 } Schuhe unter dem makellosen schwarzen Anzug elegant an unserem Beobachter vorüber, eilten durch die Drehtür und hinein in das große Marmorportal des brandneuen ultramodernen Glasgebäudes, das in Windeseile aus den Ritzen der Kais in den Dubliner Himmel gewachsen war. Aber an diesem besonderen Morgen blieben die Schuhe stehen, direkt vor unserem Beobachter. Und dann machten sie mit einem knirschenden Geräusch auf dem kalten Beton kehrt. So blieb dem Beobachter nichts anderes übrig, als den Blick von den Schuhen zu heben und nach weiter oben zu schauen.
»Bitte schön«, sagte Lou und reichte dem Mann einen Kaffee. »Leider nur ein Americano, ich hoffe, das stört Sie nicht. Die hatten Probleme mit ihrer Maschine, deshalb gibt’s heute keinen Latte.«
»Dann können Sie das Zeug ruhig behalten«, sagte der Beobachter und betrachtete naserümpfend die dampfende Tasse, die Lou ihm hinhielt.
Die Bemerkung stieß auf erstauntes Schweigen.
»War nur ein Scherz.« Der Beobachter lachte über das erschrockene Gesicht des Schuhbesitzers, griff schnell – falls der Witz nicht ankam und sein Wohltäter die nette Geste samt Kaffee zurücknahm – nach dem Becher und umfasste ihn mit seinen vor Kälte schon ganz starren Fingern. »Seh ich vielleicht aus, als interessierte ich mich für aufgeschäumte Milch?«, grinste er, und dann erschien pure Verzückung auf seinem Gesicht. »Mmmm.« Er hielt die Nase dicht an den Becherrand, sog den Geruch der Kaffeebohnen ein und schloss die Augen, als wollte er sich durch nichts und niemanden von dem göttlichen Duft ablenken lassen. Die Papptasse war so heiß – oder die Hände so kalt –, dass die Berührung auf seiner Haut brannte und
Weitere Kostenlose Bücher