Zeit deines Lebens
vor allem nachts. Unter anderem deswegen hab ich mir den Platz hier ausgesucht. Natürlich auch, weil so viel los ist. Von der schönen Aussicht allein kann ich mir ja leider kein Abendessen kaufen.«
»Das haben wir gebaut«, erklärte Lou und wandte sich seinem Gesprächspartner wieder ganz zu.
»Wirklich?« Gabe musterte Lou etwas aufmerksamer. {38 } Mitte bis Ende dreißig, glattrasiertes Gesicht, weich wie ein Babypopo, teurer Haarschnitt, gleichmäßig von ein paar grauen Strähnen durchzogen – fast so, als hätte jemand einen Salzstreuer genommen und im Verhältnis eins zu zehn mit dem Grau auch ordentlich Charme auf diesem Kopf verteilt. Gabe fand, dass Lou aussah wie ein Filmstar alter Schule, kultiviert und elegant, verpackt in einen langen schwarzen Kaschmirmantel.
»Ich wette, davon konnten Sie sich ein schönes Abendessen leisten«, lachte Gabe, aber im gleichen Moment spürte er einen kurzen Stich der Eifersucht, der ihn sehr störte, denn bevor er Lou so intensiv studiert hatte, hatte er nichts dergleichen empfunden. Seit er Lou begegnet war, hatte er zwei Erfahrungen gemacht, die alles andere als angenehm waren: Ihm war kalt, und er war neidisch. Dabei hatte er sich vorhin angenehm warm und zufrieden gefühlt. Obwohl er in seiner eigenen Gesellschaft immer glücklich gewesen war, schwante ihm nun, dass er, sobald dieser Mann nicht mehr da war, eine Einsamkeit spüren würde, die ihm bis dato nicht bewusst gewesen war. Dann würde er neidisch, verfroren
und
einsam sein. Die perfekten Zutaten für hausgemachte Bitterkeit.
Das segelförmige Hochhaus hatte Lou natürlich weit mehr eingebracht als ein schönes Dinner. Seine Firma hatte mehrere Preise eingeheimst, und er persönlich hatte sich ein Haus in Howth gekauft und seinen Porsche gegen das neueste Modell eingetauscht, das allerdings erst nach Weihnachten ausgeliefert werden würde. Aber all das erzählte Lou dem Mann lieber nicht, der, in eine wahrscheinlich flohverseuchte Decke gehüllt, hier auf dem eiskalten Straßenpflaster kauerte. Stattdessen lächelte er höflich, ließ seine Jacketkronen blitzen und war wie üblich mit zwei {39 } Dingen gleichzeitig beschäftigt. Dachte das eine und sagte etwas anderes. Aber Gabe konnte zwischen den Zeilen lesen, und so stieg die Verlegenheit auf ein Niveau, das für beide nicht angenehm war.
»Na dann, ich glaube, ich sollte mal los zur Arbeit … «
»Nach nebenan, ich weiß. Ich kenne Ihre Schuhe. Die sind für mich eher auf Augenhöhe«, grinste Gabe. »Obwohl Sie diese hier gestern nicht anhatten. Gerbleder, wenn ich mich nicht irre.«
Lous ordentlich gezupfte Augenbrauen ruckten ein Stück in die Höhe. Wie ein Stein, der im Wasser landet, verursachte das eine Reihe von Wellenfurchen auf seiner noch botoxfreien Stirn.
»Keine Sorge, ich bin kein Stalker«, versicherte Gabe, nahm eine Hand von der heißen Tasse und hob sie verteidigend in die Höhe. »Ich sitze nur schon eine ganze Weile hier. Wenn überhaupt, sind es Sie und Ihre Kollegen, die immer wieder bei mir auftauchen.«
Lou lachte und blickte dann etwas unsicher auf seine Schuhe hinunter, die so unvermittelt das Gesprächsthema geworden waren. »Eigentlich unglaublich – ich hab Sie noch nie hier bemerkt«, dachte er laut vor sich hin, und als er die Worte aussprach, ging er in Gedanken jeden Morgen durch, an dem er auf diesem Weg zur Arbeit gekommen war.
»Aber ich bin hier, von früh bis spät, jeden Tag«, sagte Gabe mit falscher Munterkeit in der Stimme.
»Tut mir leid, aber ich hab Sie nie wahrgenommen … « Lou schüttelte verwundert den Kopf. »Aber ich bin ja auch immer so in Eile, telefoniere im Gehen oder bin schon für irgendeinen Termin spät dran. Ich muss immer an zwei Orten gleichzeitig sein, sagt meine Frau. Manchmal wünsche {40 } ich mir, jemand würde mich klonen, so viel hab ich zu tun.« Er lachte.
Gabe lächelte ihn seltsam an. »Apropos Eile – heute ist das erste Mal, dass ich die beiden Jungs hier nicht an mir habe vorbeirennen sehen«, sagte er mit einer Kopfbewegung zu Lous Schuhen. »Hätte die beiden beinahe nicht erkannt, wenn sie stillstehen. Heute kein Schwung dahinter?«
Wieder lachte Lou. »Doch, da ist immer Schwung dahinter, das können Sie ruhig glauben.« Er machte eine rasche Bewegung mit dem Arm, als wollte er ein Kunstwerk enthüllen, und sein Mantelärmel rutschte gerade weit genug herauf, um seine goldene Rolex sichtbar werden zu lassen. »Aber ich bin immer der Erste im Büro, also
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