Zeit deines Lebens
Nilpferd im Schlamm. Neben ihnen jedoch legt
er
eine Kette aus glitzernden Diamanten um
ihren
Hals. Ihr bleibt fast die Luft weg, sie presst die Hand auf die Brust und schüttelt ungläubig den Kopf, wie man es manchmal bei Frauen in alten Schwarzweißfilmen sieht.
Nichts von alldem ist wichtig für unsere Geschichte, aber für den Menschen, der im Vorgarten des Hauses mit {10 } der Nummer vierundzwanzig steht und auf die zugezogenen Wohnzimmervorhänge starrt, bedeutet es eine Menge. Er ist vierzehn Jahre alt, und ein Dolch steckt tief in seinem Herzen. Was dort drinnen vor sich geht, kann er nicht sehen, aber seine Phantasie ist übersättigt von den Tränen, die seine Mutter tagsüber weint. Deshalb kann er es erraten.
Er hebt die Arme über den Kopf, holt kräftig aus und schleudert das Objekt, das er in den Händen hält, in Richtung der zugezogenen Vorhänge. Dann schaut er mit bitterer Freude zu, wie der fünfzehn Pfund schwere gefrorene Truthahn durch das Fenster von Nummer vierundzwanzig kracht. Die zugezogenen Vorhänge funktionieren einmal mehr als Barriere zwischen ihm und denen dort drinnen, bremsen den Flug des Vogels durch die Luft, doch sie können ihn nicht mehr aufhalten, und er landet, leblos, aber rasant – samt Innereien – auf dem Holzfußboden, schlittert und kreiselt ein paar Mal und kommt schließlich direkt unter dem Weihnachtsbaum zur Ruhe. Das Geschenk des Jungen draußen für diese Menschen da drinnen.
Auch Menschen haben ihre Geheimnisse, ebenso wie Häuser. Manchmal leben die Geheimnisse in den Menschen, manchmal leben die Menschen in ihren Geheimnissen. Die Arme eng um ihre Geheimnisse geschlungen, verbiegen sich die Menschen ihre Zungen an der Wahrheit. Aber die Zeit vergeht, und irgendwann gewinnt die Wahrheit doch die Oberhand. Sie dreht und windet sich, sie wächst so lange an, bis die geschwollene Zunge sie nicht mehr einwickeln kann und endlich die Worte ausspucken muss. Dann fliegt auch die Wahrheit durch die Luft und landet krachend in der Welt. Wahrheit und Zeit arbeiten immer zusammen.
In dieser Geschichte geht es um Menschen, um Geheimnisse und um Zeit. Es geht um Menschen, die, ganz ähnlich wie hübsch eingepackte Geschenke, ihre Geheimnisse verbergen, um Menschen, die sich eine Schutzschicht nach der anderen zulegen, damit niemand sie sehen kann. Bis so ein Mensch irgendwann der richtigen Person begegnet, der Person, die das sieht, was sich unter all den Schichten verbirgt. Manchmal muss man sich jemandem schenken, um zu erfahren, wer man ist. Und manchmal muss man etwas Stück für Stück auspacken, um zum Kern vorzudringen.
Diese Geschichte handelt von einem Menschen, der herausfindet, wer er ist. Von einem Menschen, der Schicht für Schicht von seiner Schutzhülle befreit wird, bis das Wesentliche sich zeigt – sichtbar für alle, die wichtig sind. Und alle, die wichtig sind, werden auch für diesen Menschen sichtbar. Gerade noch rechtzeitig.
2 Ein Morgen voller Halblächeln
Mit bedächtigen, systematischen Bewegungen werkelte Sergeant Raphael O’Reilly in der engen Belegschaftsküche der Polizeiwache von Howth herum, in Gedanken noch ganz bei den Ereignissen dieses Morgens. Mit seinen neunundfünfzig Jahren hatte Raphie, wie er überall genannt wurde, noch ein Jahr bis zur Pensionierung vor sich, und vor dem heutigen Tag hatte er sich nicht vorstellen können, dass er sich irgendwann einmal darauf freuen würde. Aber das, was heute früh passiert war, hatte ihn in seinen Grundfesten erschüttert, hatte seine Welt auf den Kopf gestellt, und von alldem, woran er bisher fest geglaubt hatte, war nur noch ein kläglicher Scherbenhaufen übrig. Bei jedem Schritt meinte er die Reste seiner einst so unerschütterlichen Überzeugungen unter seinen Stiefeln knirschen zu hören. So einen Morgen hatte er in den ganzen einundvierzig Jahren, die er jetzt schon hier arbeitete, noch nie erlebt – und das wollte etwas heißen.
Er schaufelte zwei Löffel löslichen Kaffee in seinen Becher, der aussah wie ein NYPD -Streifenwagen und den einer seiner Kollegen ihm zu Weihnachten aus New York mitgebracht hatte. Obwohl Raphie immer so tat, als fände er ihn scheußlich, freute er sich insgeheim sehr darüber. Als er ihn ausgepackt hatte, hatte er sich plötzlich um mehr als {13 } fünfzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt gefühlt, zu dem Weihnachten, als er von seinen Eltern einen Spielzeug-Polizeiwagen bekommen hatte. Er hatte dieses Auto über alles geliebt – bis
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