Zeit deines Lebens
stattdessen.
»Nein. Nein.«
»Wirst du ihr davon erzählen?«
Wieder schweifte sein Blick in die Ferne. »Ich weiß noch nicht. Hast du vor, es jemandem zu erzählen?«
Sie zuckte die Achseln, und ihr Gesicht war so unergründlich wie immer. Dann deutete sie mit einer Kopfbewegung den Korridor hinunter in Richtung Verhörraum. »Der Truthahnjunge wartet immer noch da drin.«
Raphie seufzte. »Was für eine Verschwendung.« Ob er damit ein bestimmtes Leben oder seine eigene Zeit meinte, ließ er offen. »Ihm würde die Geschichte garantiert guttun.«
Jessica hielt inne, bevor sie den nächsten Schluck trank, und fixierte ihn mit ihren fast schwarzen Augen über den {19 } Rand ihres Bechers hinweg. Ihre Stimme war so fest wie der Glaube in einem Nonnenkloster, so unerschütterlich und zweifelsfrei, dass er nicht nachfragen musste, ob sie sich wirklich sicher war.
»Erzähl sie ihm«, sagte sie bestimmt. »Selbst wenn wir in unserem ganzen Leben mit keinem anderen Menschen darüber reden, ihm sollten wir sie erzählen.«
3 Der Truthahnjunge
Raphie betrat den Verhörraum wie sein Wohnzimmer – als würde er sich gleich auf die Couch sinken lassen und zum Feierabend die Füße hochlegen. In seinem Auftreten lag nichts auch nur ansatzweise Bedrohliches. Er war zwar mit seinen knapp eins neunzig ziemlich groß, aber er füllte den Platz nicht aus, den sein Körper einnahm. Wie üblich hielt er den Kopf nachdenklich gesenkt, und seine Augenbrauen rutschten, der Schwerkraft gehorchend, fast über die Augen. Sein Rücken war leicht gebeugt, als trüge er dort zum Schutz einen kleinen Panzer, und der Panzer am Bauch war noch deutlich dicker. In der einen Hand hielt er einen Pappbecher, in der anderen seine halbvolle NYPD -Tasse.
Der Truthahnjunge glotzte auf Raphies Keramikstreifenwagen. »Wie uncool ist das denn?«
»Jemandem einen Truthahn durchs Fenster zu schmeißen ist auch nicht grade der Inbegriff der Coolness.«
Der Junge griente und begann am Kapuzenband seines Sweatshirts zu kauen.
»Warum hast du das gemacht?«
»Weil mein Dad ein Arschloch ist.«
»Ich hab mir schon fast gedacht, dass es kein Weihnachtsgeschenk für den Vater des Jahres war. Aber wie bist du auf die Idee mit dem Truthahn gekommen?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Meine Mum hat gesagt, ich soll den Truthahn aus dem Gefrierschrank holen«, bot er als Erklärung an.
»Wie ist er dann aus dem Gefrierschrank auf den Fußboden im Haus deines Vaters gekommen?«
»Den größten Teil des Wegs hab ich ihn getragen, den Rest ist er geflogen.« Wieder das Grienen.
»Wann wolltet ihr ihn denn essen?«
»Um drei.«
»Ich hab gemeint, an welchem Tag? Pro fünf Pfund Truthahn rechnet man mindestens vierundzwanzig Stunden Auftauzeit. Dein Truthahn wog fünfzehn Pfund. Wenn ihr ihn heute essen wolltet, hättet ihr ihn schon vor drei Tagen aus dem Gefrierschrank nehmen müssen.«
»Wie auch immer, Ratatouille.« Er musterte Raphie, als hielte er ihn für verrückt. »Wenn ich ihn noch mit Bananen gefüllt hätte, würde ich dann weniger Ärger kriegen?«
»Ich hab das nur erwähnt, weil er nicht hart genug gewesen wäre, wenn du ihn rechtzeitig aus dem Gefrierschrank genommen hättest. Für die Geschworenen hört sich das jetzt womöglich an, als hättest du die Sache gezielt geplant. Und nein, Bananen-Truthahn ist kein gutes Rezept, finde ich.«
»Ich hab es aber nicht geplant!«, kreischte der Junge und ließ sich zum ersten Mal anmerken, wie jung er in Wirklichkeit war.
Raphie trank seinen Kaffee und beobachtete den Truthahnwerfer.
Der schnupperte an dem Pappbecher und rümpfte verächtlich die Nase. »Ich trinke keinen Kaffee.«
»Okay.« Raphie nahm das Pappding vom Tisch und schüttete den Inhalt in seinen eigenen Becher. »Ist noch {22 } warm. Danke. Also, dann erzähl mir mal von heute früh. Was hast du dir dabei gedacht, Söhnchen?«
»Falls Sie nicht dieser andere fette Wichser sind, dem ich den Truthahn ins Fenster geschmissen habe, dann bin ich ganz sicher nicht Ihr Sohn. Und was soll das hier überhaupt sein, eine Therapiestunde? Oder ein Verhör? Steh ich vielleicht unter Anklage oder was?«
»Wir warten noch auf verbindliche Nachricht von deinem Vater, ob er Anzeige erstatten möchte oder nicht.«
»Wird er nicht.« Der Junge verdrehte die Augen. »Weil er es nämlich gar nicht kann. Ich bin noch nicht sechzehn. Wenn Sie mich jetzt gehen lassen, verschwenden Sie wenigstens nicht Ihre Zeit.«
»Von meiner Zeit hast du
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