Zeit der Geheimnisse
stirbt, wählt man die 999 und er wird gerettet. Es ist immer klar, wer die Guten und wer die Bösen sind, und Kinder können im Moor zelten oder zum Nordpol ziehen oder mit gerade mal zehn Jahren weltberühmte Detektive werden.
In Büchern ist alles einfacher. In Büchern kehren verlorene Väter immer von den Toten zurück, und die Rabauken werden immer verprügelt. Am Geburtstag scheint immer die Sonne, und alles nimmt immer ein gutes Ende.
5 - Dasselbe Gesicht
Den hast du dir doch ausgedacht«, sagt Hannah.
Wir gehen den Hügel hinunter zur Schule.
»Das sagst du immer«, antworte ich. »Wieso machst du das? Es hat ihn wirklich gegeben. Er war da.«
»Das ist alles erfunden«, sagt Hannah. »Alles, was du angeblich gesehen hast. Entweder das, oder du bist verrückt geworden.« Sie sieht mich nachdenklich an. »Hörst du Stimmen? Sagen sie dir, du sollst irgendwelche Sachen machen? Töte deine Grandma, Molly. Töööte sieee …«
»Hau ab!« Ich werfe mir meine Tasche über die Schulter. »Ohne dich wäre ich doch nie da draußen gewesen. Wieso bist du überhaupt zu Grandma und Grandpa zurückgegangen und hast mich allein gelassen?«
»Wir wären sowieso nie bis nach Hause gekommen«, sagt Hannah in ihrem Große-Schwester-Tonfall, so als wäre das Ganze meine Idee gewesen, und bevor ich irgendetwas antworten kann, rennt sie den Hügel hinunter.
Ich renne ihr nach.
Woher weiß man, ob irgendetwas wirklich ist? Schatten an der Wand, Stimmen in der Nacht, vorbeihuschende Gestalten, die genauso gut Mäuse wie kleine Menschen oder Einbildung sein können? Der Mann gestern Abend hat sich jedenfalls echt angefühlt. Aber andererseits gilt das auch für Träume. Sind Träume wirklich?
»Nun komm schon!«, ruft Hannah über die Schulter zurück.
Unsere Schule hier ist winzig – ein rechteckiges gemauertes Gebäude mit einem briefmarkengroßen Hof und einer Wiese zum Spielen mit vielen Büschen auf der anderen Straßenseite. Es gibt bloß einen einzigen Klassenraum mit einem großen Tisch, um den herum wir alle sitzen. Wir sind nur eine einzige Klasse mit acht Leuten.
Wir sind spät dran, die anderen sind schon reingegangen. Sascha, die erst sechs ist, steht weinend beim leeren Hamsterkäfig.
»Ich wollte ihn doch bloß streicheln!«
Die anderen sehen Josh und Matthew zu, die unter dem Naturkundetisch flach auf dem Bauch liegen und rufen.
»Ich seh ihn!«
»Lass ihn bloß nicht abhauen!«
Josh und Matthew sind wie Hannah, sie brauchen viel Platz. Die beiden sind Brüder. Meistens sind sie mit Alexander zusammen, der sich gerade über den Tisch lehnt und auch rumschreit.
»Nein – so doch nicht! Versucht, ob ihr ihn fangen könnt!«
Alexander ist ein bisschen dicklich. Sein blauer Schulpullover sitzt an der Schulter ganz schief, außerdem hat er sich mit Orangensaft bekleckert. Seine Eltern unterrichten beide an der Universität von Northumbria. Er ist der Typ Junge, der viel mehr über die Römer weiß, als für irgendwen gut wäre.
»Nein, guckt doch mal – «
Josh und Matthew ignorieren ihn. Bloß Oliver, der erst vier ist und der Kleinste in der Schule, dreht sich um und starrt ihn an. Oliver hat ein rundes Gesicht mit rosa Backen und braunen Augen und lutscht mit seinem feucht glänzenden roten Mund am Ende seines Pulloverärmels.
Dann ist da noch Emily. Emily ist nicht auf Hamsterjagd. Emily hat blonde Haare und blaue Augen und silbern glänzende Schuhe. Emily steht beim Tablett mit den Wassergläsern und sieht aus dem Fenster.
Der Himmel ist grau.
Es wird wieder regnen.
»Also!« Mrs. Angus kommt gerade aus der Küche. »Joshua Haltwhistle, würdest du bitte da unten rauskommen. Und zwar gleich. Sofort!«
»Ich hab ihn!« Josh krabbelt mühsam hervor, den Hamster in der gewölbten Hand. Stückchen vom Pilz auf dem Naturkundetisch hängen ihm in den Haaren.
»Sag mal, was genau hattest du eigentlich da unten zu suchen?«, fährt Mrs. Angus ihn an.
Josh ist empört. »Wir haben bloß geholfen, Miss! Sascha hat den Hamster rausgelassen!«
Aber Mrs. Angus beachtet ihn gar nicht. Mrs. Angus ist nur die Hilfslehrerin, aber sehr streng.
Sascha hat Angst, dass es Ärger gibt, und weint umso lauter.
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und sehe auf. Miss Shelley steht hinter mir in der Tür und schaut in die Klasse. »Ich glaube, heute wäre der richtige Tag für einen Ausflug«, sagt sie. »Meinst du nicht auch?«
Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so kleine Schulen
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