Zeit der Gespenster
Mr. Pike. Ich darf Ihnen nichts mehr geben.«
Mit einem qualvollen Stöhnen warf er das Steuergerät für die Pumpe auf den Boden. Er lag auf der Seite, die Gesichtszüge schmerzverzerrt. Selbst als der andere Mann aus dem Schatten nähertrat, dauerte es einige Sekunden, bis Pike das Gesicht klar sehen konnte. Er zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Erkennen. »Wer sind Sie?«, keuchte er.
Darauf gab es keine eindeutige Antwort. Er war in seinem Leben so viele verschiedene Personen gewesen: John Delacour, Gray Wolf, Az Thompson. Man hatte ihn Indianer genannt, Zigeuner, Mörder, ein Wunder. Doch die einzige Identität, die er sich je wirklich gewünscht hatte, war ihm verwehrt worden – Lilys Mann, Lias Vater.
Vielleicht phantasierte Spencer Pike von den Schmerzmitteln, oder er lag im Delirium; vielleicht sah er Mut in Az’ Augen und verwechselte ihn mit Verständnis. Jedenfalls griff er über die wenigen Zentimeter äußeren Abstands und die Meilen innerer Distanz hinweg nach Az’ Hand und hielt sie fest. »Bitte«, flehte er. »Helfen Sie mir.«
Es erschütterte Az zutiefst, dass er und Spencer Pike doch etwas gemeinsam hatten: Sie würden allein sterben, und ihre Trauer würde mit ihnen sterben. Er blickte auf den gebrochenen Mann vor sich, der so viele Leben zerstört hatte. »Helfen Sie mir zu sterben«, hauchte Pike.
Es wäre ganz einfach. Er könnte ihm ein Kopfkissen sekundenlang aufs Gesicht drücken. Eine Hand auf den ausgedörrten, verbitterten Mund pressen. Niemand würde es erfahren, und Az hätte seine biblische Gerechtigkeit: ein Leben für ein Leben.
Aber genau das wollte Pike. »Nein», sagte Az und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzublicken.
Die Polizei von Comtosook hatte sechs Hilfskräfte angeheuert, die die Medien von der Exhumierung fernhielten. Um die offenen Gräber herum standen Wesley Sneap, Eli, Az mit einigen wenigen Abenaki und Ross. Aus der Erde stieg der süßliche Geruch der Zeit.
Da sollte ich liegen , dachte Ross, und im selben Moment sprach Az dieselben Worte laut aus. Die Hände des alten Mannes bebten, als er sie über die Särge hob. »Wohin bringt ihr sie?«, fragte Ross ihn.
»Auf einen Berg, einen heiligen Ort«, erwiderte der alte Mann. »Abenaki werden mit dem Gesicht nach Osten hin bestattet.« Er blickte auf. »Dann kann sie sehen, was kommt.«
Ross versuchte, an dem Kloß in seinem Hals vorbeizuschlucken. »Sagen … sagen Sie mir, wo ihr Grab ist?«
»Das kann ich nicht. Sie sind kein Abenaki.«
Ross hatte diese Antwort erwartet, trotzdem schossen ihm Tränen in die Augen. Er nickte, trat verlegen gegen ein Stöckchen auf dem Boden. Plötzlich spürte er, wie etwas in seine Hand geschoben wurde. Ein Briefumschlag.
Darin war ein verblasster Ausschnitt aus der Burlington Free Press , die Todesanzeige von Cecelia Beaumont Pike. Daneben war ein Foto abgedruckt. Sie lächelte schwach, als hätte der Fotograf gerade eine witzige Bemerkung gemacht, die sie nicht lustig fand, aber aus Höflichkeit wenigstens mit einem Lächeln quittieren wollte. »Behalten Sie das«, sagte Az.
»Das kann ich unmöglich annehmen.«
»Sie würde es so wollen.« Az legte den Kopf schief. »Sie hat mir gesagt, dass sie von Ihnen geträumt hat, wissen Sie.«
»Sie … hat was?«
»Von einem Mann, der so aussah wie Sie. Der irgendwelchen technischen Krimskrams hatte, mit dem sie nichts anfangen konnte. Sie sind zu ihr gekommen, wenn sie schlief.« Az zuckte die Achseln. »So ungewöhnlich ist das gar nicht. Man kann jahrelang von jemandem verfolgt werden, den man nie kennengelernt hat.«
»Sind Sie bereit?«, fragte Eli sanft, und der alte Mann nickte.
Wesley Sneap half Eli, den Deckel des größeren Sarges mit einer Brechstange aufzustemmen. Ross wich zurück, und zwei der Abenaki wurden kreidebleich. Eli spähte in den Kiefernsarg auf das vergilbte Gewirr aus Knochen auf einem Bett aus Sand und Staub. Nur eine Gliedmaße war ganz geblieben – der rechte Arm, eine durchgängige Linie von der Schulter über das Handgelenk bis zur Hand, lag auf dem Brustbein, das einst ein Herz bedeckt hatte.
Eli blieb mit gefalteten Händen stehen und fühlte sich zurück in seine Kindheit versetzt, als Az plötzlich in einer Sprache sprach, die er tief in sich trug. Kchai phanem ta wdosa … die Mutter und Tochter. Kchi Niwaskw … Großer Geist. Nosaka nia … Folge mir. Eli wusste nicht, ob Cecelia Pike oder ihr Baby an einem Ort waren, wo sie diese Zeremonie hören konnten,
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