Zeit der Gespenster
aber er hoffte es.
»Olegwasi« , sagte Az. »Träume gut.« Dann drehte er sich zu den anderen um. »Die Ojibway – das Volk, bei dem ich lebte, nachdem ich von hier fortgegangen war – halten eine Zeremonie ab, wenn ein Baby geboren wird.« Er nahm ein bisschen Tabak aus einem Leinenbeutel und zündete ihn an. »So kann die Geisterwelt ein Kind erkennen und ihm einen Platz bereiten, wenn seine Zeit zu gehen gekommen ist. Heute möchte ich meiner Enkelin einen Namen geben.« Er richtete sich nach Osten.
»Lily«, rief er.
»Lily«, wiederholte Eli.
Az wandte sich nach Norden. »Lily.«
»Lily.«
Dann bot er ihren Namen dem Westen und dem Süden dar. Als Az sich Eli wieder zuwandte, schneite es. Eli fasste sich auf den Kopf und wischte ein paar Blütenblätter ab. »Jetzt«, sagte Az.
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, bis er die Farbe eines Blutergusses hatte. Ross Wakeman drehte sich im Kreis, als erwartete er irgendeine Erscheinung, und der Teufel sollte Eli holen, wenn er das nicht auch für möglich gehalten hätte.
Doch in dem Augenblick öffnete Wesley den kleineren Sarg, eine Apfelkiste. Das verfaulte Holz brach in Stücke, und der Inhalt verteilte sich auf der Erde.
Die kleine Gruppe verstummte. Die Knochen, krumm und braun, waren ein einziges Wirrwarr. Doch selbst Eli, der für dergleichen nicht ausgebildet war, sah sofort, dass der Schädel fehlte. »Ähm … Wesley?«
Der alte Gerichtsmediziner kniete sich schwerfällig hin und untersuchte die Überreste mit einer behandschuhten Hand. »Die Rippen und Wirbel sind da«, sagte er, »aber für ein Neugeborenes sind sie zu groß. Ich glaube nicht mal, dass die von einem Menschen sind.«
»Und was zum Teufel sind das für Knochen?«
Wesley blickte zu Eli hoch. »Ich würde sagen, das war vor langer Zeit mal ein Rippenbraten«, sagte er.
Eli kniete sich neben den Sarg und spürte, wie Az hinter ihn trat. Alle blickten zum Himmel, der plötzlich Rosenblütenblätter regnen ließ, die den Boden, das Grab und die Knochen im Sarg bedeckten. Eine Böe fegte heran und wirbelte die Blütenblätter hoch. Sie schwebten hinab zur Erde, und wer genau hinsah, meinte zwei Buchstaben erkennen zu können: RW .
In ihren Träumen streckte Ruby die Hände aus. Die Vorahnung hockte wie ein Löwe auf ihrer Brust und presste sie nieder. Sie schreckte aus dem Schlaf und wollte sich aufsetzen, aber es ging nicht, weil der Löwe sie auf die Matratze niederdrückte, und als sie es trotzdem versuchte, rang sie schwer nach Atem.
War das Lucy, die da weinte?
Nein, es war ein Baby. Das leise Wimmern drang unter der Tür durch in Rubys Zimmer. Ruby kämpfte sich mühsam hoch, doch zuvor versetzte der Löwe auf ihrer Brust ihr noch einen bösen Prankenhieb.
Sie presste sich eine Hand auf die brennende Stelle über der linken Brust und fiel schwer zu Boden. In dem klaren Augenblick, den man mitunter bei großen Schmerzen erlebt, wusste Ruby plötzlich, wer das Baby war. Und sie wusste auch, dass sie im Traum die Hände nach Cecelia Pike ausgestreckt hatte.
Ross fuhr mit dem Wagen ziellos durch die Gegend, und als er sich selbst nicht länger etwas vormachen konnte, hielt er am Straßenrand. Er stieg aus, streckte sich auf der Motorhaube aus, den Kopf gegen die Windschutzscheibe gelehnt, und lächelte zum Himmel hinauf. »RW«, sagte er laut. »RW.«
Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, und es war ihm gleich, ob es noch jemandem aufgefallen war – die Blütenblätter hatten seine Initialen geformt. Ross ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
»Was soll das heißen, die Leiche hat gefehlt?« Shelby saß neben Ross auf der Veranda und konnte es nicht glauben. »Es gab doch einen Totenschein.«
Am Ende der Einfahrt verbeugte sich Ethan, der soeben eine Reihe von Skateboardtricks vorgeführt hatte. »Ma! Hast du gesehen?«
Shelby klatschte. »Exorbitant!« Dann sagte sie zu Ross: »Musste denn der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hat, die Leiche nicht wenigstens gesehen haben?«
»Keine Ahnung. Eli arbeitet mit Protokollen und Zeugenaussagen und Standesamtsunterlagen, aber das, was wirklich passiert ist, lässt sich daraus nur ungefähr rekonstruieren.«
»Er scheint zu wissen, was er tut«, sagte Shelby.
Ross betrachtete das Gesicht seiner Schwester. »Reden wir jetzt noch über den Mordfall, oder möchtest du mir irgendwas anvertrauen?«
Sie zog die Füße ein, weil Ethan nur wenige Zentimeter vor ihren Zehen auf seinem Skateboard vorbeisauste.
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