Zeit im Wind
Phase, aus der sie herauswachsen würde, aber das war nicht so. Auch in den ersten drei Jahren auf der High School hatte sie sich kein bißchen verändert. Das einzige, was sich verändert hatte, war die Kleidergröße der Sachen, die sie trug.
Aber es lag nicht nur an der Art, wie sie sich kleidete, daß Jamie irgendwie anders war, es war auch ihr Verhalten. Jamie vertrödelte nie ihre Zeit in Cecil's Diner oder ging zu Schlafpartys bei anderen Mädchen, und ich wußte mit Sicherheit, daß sie noch nie einen Freund gehabt hatte. Der alte Hegbert hätte wahrscheinlich einen Herzanfall bekommen, wenn sie mit einem Jungen angekommen wäre. Aber selbst wenn Hegbert aus irgendwelchen Gründen einverstanden gewesen wäre, hätte das nichts geändert, denn Jamie trug ihre Bibel immer bei sich, und wenn ihr Aussehen und Hegbert die Jungen nicht abschreckten - die Bibel tat es auf jeden Fall. Ich meine, ich hatte genausowenig etwas gegen die Bibel wie die anderen in meinem Alter, aber Jamie schien eine Freude aus der Bibel zu ziehen, die mir völlig fremd war. Sie fuhr nicht nur jedes Jahr im August zur Ferienbibelschule, sondern sie las auch in der Pause in der Bibel. Für mein Gefühl war das einfach nicht normal, auch wenn sie die Tochter des Pfarrers war. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, die Briefe des Paulus an die Epheser machten nicht halb soviel Spaß wie ein Flirt, das leuchtet doch wohl ein.
Aber damit nicht genug. Weil sie soviel in der Bibel las, oder vielleicht auch wegen Hegberts Einfluß, war Jamie der Ansicht, daß es wichtig war, anderen zu helfen, und genau das tat sie auch. Ich wußte, daß sie im Waisenhaus in Morehead City ab und zu mithalf, aber das reichte ihr noch nicht. Sie sammelte immer für irgendwas Geld, für die Pfadfinder oder die indianischen Prinzessinnen, und als sie vierzehn war - daran erinnere ich mich -, verbrachte sie einen Teil ihrer Sommerferien damit, das Haus einer alten Nachbarin frisch zu streichen. Jamie gehörte zu den Menschen, die unaufgefordert bei jemandem Unkraut zupften oder den Verkehr anhielten und einem Kind über die Straße halfen. Sie sparte ihr Taschengeld, um den Waisenkindern einen neuen Basketball zu kaufen, oder sie steckte das Geld sonntags im Gottesdienst in den Kollektenbeutel. Anders ausgedrückt, sie war ein Mädchen, neben dem wir anderen sehr schlecht abschnitten, und wenn sie in meine Richtung sah, hatte ich augenblicklich ein schlechtes Gewissen, obwohl ich gar nichts verkehrt gemacht hatte.
Aber Jamie beschränkte ihre guten Taten nicht nur darauf, Menschen zu helfen. Immer wenn sie ein verletztes Tier fand, versuchte sie, es zu retten. Beutelratten, Eichhörnchen, Hunde, Katzen, Frösche… was es war, kümmerte sie nicht. Doctor Rawlings, der Tierarzt, kannte sie schon und schüttelte jedesmal den Kopf, wenn er sie mit einem Karton kommen sah, in dem eine dieser armen Kreaturen saß. Dann nahm er die Brille ab und putzte sie sich mit einem Taschentuch, während Jamie erklärte, wo sie das arme Tier gefunden hatte und was passiert war.
»Es ist von einem Auto überfahren worden, Dr. Rawlings. Ich glaube, es war die Vorsehung Gottes, daß ich es retten sollte. Sie helfen ihm doch, oder?«
Bei Jamie war alles die Vorsehung Gottes. Das war auch so eine Sache. Sie redete dauernd von der Vorsehung Gottes, wenn man mit ihr sprach, ganz gleich, um welches Thema es ging. Das Baseballspiel mußte wegen Regens abgesagt werden? Es war die Vorsehung Gottes, um auf diese Weise etwas Schlimmeres zu verhüten. Eine unangekündigte Klassenarbeit in Trigonometrie, die alle verpatzten? Es ist wohl die Vorsehung Gottes, uns ab und an eine Herausforderung zu schicken. So ging das die ganze Zeit.
Dazu kam, daß sie mit Hegbert zusammenlebte, und das machte es auch nicht besser. Die Tochter des Pfarrers zu sein war bestimmt nicht leicht, aber sie tat so, als wäre es das Natürlichste von der Welt und ein Glück und Segen obendrein. Und das formulierte sie auch so: »Es ist ein solcher Segen für mich, einen Vater wie meinen zu haben.«
Wenn sie das sagte, konnten wir nur den Kopf schütteln und uns fragen, wo sie eigentlich lebte.
Was mich aber wirklich zum Wahnsinn trieb von all ihren Eigenarten, das war ihre verdammte Fröhlichkeit, die sich durch nichts, was sich um sie herum abspielte, beeinträchtigen ließ. Ich schwöre, daß sie über nichts und niemanden je ein schlechtes Wort sagte, auch nicht zu denen von uns, die nicht besonders nett zu
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