Zeit im Wind
ihr waren. Sie summte vor sich hin, wenn sie die Straße entlangging, sie winkte Fremden zu, die mit dem Auto vorbeifuhren. Manchmal kamen die Frauen aus dem Haus, wenn sie Jamie vorbeigehen sahen, und gaben ihr ein Stück selbstgebackenes Kürbiskernbrot oder, wenn die Sonne hoch stand, ein Glas Limonade. Alle Erwachsenen in der Stadt verehrten sie anscheinend. »So ein nettes Mädchen«, sagten sie, wenn von Jamie die Rede war. »Die Welt wäre um vieles besser, wenn es mehr Menschen wie sie gäbe.«
Aber meine Freunde und ich waren der Meinung, daß eine Jamie Sullivan mehr als genug war.
All diese Dinge gingen mir durch den Kopf, als Jamie an jenem ersten Tag des Schauspielkurses vor uns stand, und ich gebe zu, daß es mich nicht besonders interessierte, sie zu sehen. Doch als sie sich zu uns umdrehte, kriegte ich einen merkwürdigen Schock, als hätte ich ein loses Kabel berührt. Sie trug einen Schottenrock mit einer weißen Bluse und darüber dieselbe braune Strickjacke, die ich schon hunderttausendmal gesehen hatte, aber auf ihrer Brust waren zwei Erhebungen zu sehen, die auch ihre Strickjacke nicht verstecken konnte und die, das schwöre ich, drei Monate zuvor noch nicht dagewesen waren. Sie trug nie Makeup, auch an dem Tag nicht, aber sie war etwas gebräunt, wahrscheinlich von der Bibelschule, und zum ersten Mal sah sie na ja, fast hübsch aus. Natürlich verscheuchte ich den Gedanken sofort, aber als sie den Blick durch den Raum schweifen ließ, lächelte sie mich direkt an und war offenbar froh, daß ich in diesem Kurs war. Ich erfuhr erst später, warum.
Kapitel 2
Nach der High School hatte ich vor, auf der University of North Carolina in Chapel Hill zu studieren. Mein Vater wollte, daß ich nach Harvard oder Princeton ging, wie die Söhne anderer Kongreßabgeordneter, aber bei meinen Noten war das nicht drin. Nicht, daß ich ein schlechter Schüler gewesen wäre, aber ich nahm die Schule nicht besonders ernst, und meine Noten reichten für die Ivy League nicht aus. Als mein letztes Schuljahr anfing, stand es sogar ziemlich auf der Kippe, ob ich überhaupt einen Studienplatz an der UNC bekommen würde, und dabei war das die Alma Mater meines Vaters, wo er also einen gewissen Einfluß geltend machen konnte. Als mein Vater an einem Wochenende zu Hause war, unterbreitete er mir seinen Plan, mich reinzuhieven. Ich hatte gerade die erste Schulwoche nach den Ferien hinter mir. Er war über Labor Day für drei Tage zu Hause, und wir saßen beim Essen.
»Ich finde, du solltest dich für das Amt des Schülersprechers bewerben«, fing er an. »Im Juni bist du mit der Schule fertig, und ich bin der Meinung, daß es sich auf deinem Zeugnis gut machen würde. Deine Mutter ist übrigens derselben Meinung.«
Meine Mutter nickte und kaute ihre Erbsen. Sie sprach nicht viel, wenn mein Vater da war, aber sie zwinkerte mir zu. Ich glaube, manchmal gefiel es meiner Mutter zu sehen, wie ich mich vor Unbehagen wand, obwohl sie sonst so lieb war.
»Ich glaube nicht, daß ich eine Chance habe, die Wahl zu gewinnen«, erwiderte ich hastig. Ich war zwar der reichste Schüler an der Schule, aber keineswegs der beliebteste. Diese Ehre kam Eric Hunter zu, meinem besten Freund. Er konnte einen Baseball mit fast neunzig Stundenkilometern werfen und hatte dem Football-Team als herausragender Quarterback zu wichtigen Siegen verholfen. Er war ein ganzer Kerl. Selbst sein Name klang cool.
»Natürlich kannst du die Wahl gewinnen«, widersprach mir mein Vater. »Wir Carters gewinnen immer.«
Das war ein weiterer Grund, warum es mir nicht paßte, daß mein Vater ab und zu nach Hause kam. Denn wenn er mal da war, wollte er mich offenbar zu einer Miniaturversion von sich selbst formen. Da ich praktisch ohne ihn aufgewachsen war, gefiel mir seine sporadische Anwesenheit überhaupt nicht. Seit Wochen war das unser erstes Gespräch. Er unterhielt sich nicht gern mit mir am Telefon.
»Und wenn ich nicht Schülersprecher werden will?« Mein Vater legte die Gabel hin - auf den Zinken stak noch ein Stück Schweinefleisch. Er sah mich verärgert an , und zwar von oben bis unten. Obwohl es fast dreißig Grad im Haus hatte, trug er einen Anzug, und das schüchterte mich noch mehr ein. Mein Vater trug übrigens immer einen Anzug.
»Ich finde«, sagte er langsam, »daß es eine gute Idee wäre.«
Wenn er in diesem Ton sprach, wußte ich, daß es beschlossene Sache war. So war das in meiner Familie. Das Wort meines Vaters war Gesetz. Aber es
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