Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
»alles verkommt, niemand kümmert sich. Dabei lagernda drinnen Schätze! Nehmen Sie allein das Büro Ihres Herrn Vaters …«
»Waren Sie in der letzten Zeit im Gebäude?«
»Niemand kommt da mehr hinein. Es ist verplombt und versiegelt. Ich komme einmal in der Woche vorbei, um zu sehen, ob sich vielleicht doch etwas tut.«
»Und wo arbeiten Sie jetzt?«
Wieder versuchte er zu lächeln, es fiel noch misslungener aus als zuvor. »Ich gehe meiner Frau zur Hand, beim Wäscheaufhängen oder beim Teppichklopfen.«
»Und es kommt wirklich niemand hinein?«
Der Mann wiegte den Kopf. »Wenn man will, kommt man überall hinein. Und wenn man einen Schlüssel hat, braucht man nicht einmal Gewalt anzuwenden.«
»Und Sie haben einen Schlüssel?«
Der Wachmann klopfte auf seine Hosentasche. »Für alle Fälle.«
Zehn Minuten später stand Wilhelm im Büro seines Vaters. Der Wachmann, der eine Hintertür des Gebäudes aufgesperrt hatte, wartete auf dem Flur. »Lassen Sie sich Zeit, es wird Sie garantiert niemand stören.«
Wilhelm stand neben dem ausgestopften Löwen, dessen Fell ihm räudiger als früher erschien und dem eines seiner Glasaugen herausgefallen war, betrachtete die Trophäen an den Wänden, die Zebrafelle auf dem Boden, die Speere und Masken auf den Regalen. Er ging um den Schreibtisch herum, setzte sich auf den Drehsessel seines Vaters. Ein Foto der Familie im Goldrahmen stand schräg rechts vor ihm: Helène sitzend mit Karl auf dem Schoß, neben ihr Elisabeth mit Adalbert, ebenfalls sitzend. Hinter dem Sessel der Mutter rechts der Freiherr, links Wilhelm. Sein Vater hatte eine Hand auf die Schulter seiner Frau gelegt, die andere steckte im Revers seines Jacketts. Alle sahen starr in die Kamera, nur der Freiherr nicht. Er hatte den Blick in eine unsichtbare Ferne gerichtet.
Wilhelm nahm das Foto zur Hand und betrachtete es näher. Er erinnerte sich, wie am Tag vor dem Fototermin ausführlichdie Kleiderfrage diskutiert worden war. Der Vater hatte auf Matrosenanzügen für die Jungen bestanden. Wilhelm, der gerade seine Kadettenausbildung begonnen hatte, musste selbstverständlich in Uniform erscheinen, Helène trug ihr mitternachtblaues Abendkleid, der Vater seinen Frack. Noch während der Fahrt ins Studio des Fotografen gab es erregte Diskussionen mit Elisabeth, die sich geweigert hatte, ihr schwarzes Rüschenkleid anzuziehen und stattdessen in einem cremefarbenen Sommerkleid mit Blütenaufdrucken erschienen war.
Wilhelm stellte das Foto zurück und öffnete die oberste Schublade des ausladenden Mahagonischreibtischs. Sie enthielt eine Zigarrenschachtel. In der Schublade darunter lagen, von einem Band zusammengehalten, ein Bündel Briefe, die Helène ihrem Mann geschrieben hatte. Sie trugen als Adresse Lomé, die Hauptstadt Togos.
Wilhelm zog die unterste Schublade auf. Ein einziges Foto lag darin, das er noch nie gesehen hatte, das Motiv war ihm jedoch bekannt: Es war ein verwackelter Schnappschuss aus dem Foyer der Berliner Oper, das den Kaiser zeigte, der Wilhelm die Hand entgegenstreckte. Die Gesichter der Umstehenden waren unscharf, sein eigenes ebenfalls.
Er drehte das Foto um, auf die Rückseite hatte der Freiherr groß und doppelt unterstrichen zwei Worte geschrieben: Mein Sohn! Wilhelm nahm einen Briefumschlag und steckte das Bild hinein, das Familienportrait ebenfalls. Als er auf den Flur hinaustrat, saß der Wachmann auf der Holzbank, auf der sonst die Besucher warteten. Der Mann bemerkte ihn nicht sofort. Wilhelm sah, wie seine Schultern zuckten. Er schien zu weinen.
*
Der unerwartete Besuch Friderikes in der Gneisenaustraße hatte Elisabeth in Hochstimmung versetzt. Die Freundinnen umarmten sich und tanzten lachend durch den Raum. Die beiden Jungen standen mit offenen Mündern dabei und staunten: So ausgelassen hatten sie ihre Schwester seit langem nicht erlebt. »Sie haben schulfrei«, erklärte Elisabeth. »Alle Schulen in Berlin sindgeschlossen worden wegen Kohle- und Holzmangel, sie können sie nicht mehr heizen! Sie brauchen das Brennmaterial in den Munitionsfabriken.«
»Wenn es das nur ist«, sagte Friderike, »in Köln haben sie die Kaiserglocke des Doms eingeschmolzen, um daraus Kanonen zu machen. Die größte Kirchenglocke der Welt! Kann man sich so etwas vorstellen? Sie hätten besser den Kaiser einschmelzen sollen, dann bräuchten wir keine Kanonen mehr …«
»Psst!« Elisabeth hielt den Zeigefinger vor die Lippen. »Ich glaube, das sollten die beiden besser nicht
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