Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
warmer Mahlzeiten sollte die Situation entspannen. Nun jedoch war der Andrang so groß geworden, dass das kostenlose Essen – meist Steckrübeneintopf mit vereinzelten Speckstücken – nicht ausreichte: Schon bevor die Karren mit den gewaltigen Töpfen anrollten, versammelten sich Menschen, die sich um die vorderen Plätze prügelten.
»Alle ins Zuchthaus!«, rief die Dame so laut, dass es keinem in der Straßenbahn entgehen konnte, »da können sie lernen, wie man wartet, bis man an der Reihe ist!«
Elisabeth beugte sich zu ihr vor. »Darf ich Sie etwas fragen, gnädige Frau?«, sagte sie, ebenfalls für alle hörbar. »Da Sie offenbar Erfahrungen mit dem Zuchthaus haben: Stimmt es, dass man dort eine Extraportion Essen erhält, wenn man sehr nett zu den Wärtern ist? Sie sehen ja durchaus wohlgenährt aus, gnädige Frau …«
In diesem Moment hielt die Straßenbahn, sie war in der Menschenmenge eingekeilt. Der Waggon schwankte bedenklich. Der Schaffner trat aus seinem Kassenhäuschen und strich seine Uniform glatt, bevor er rief: »Ich muss Sie leider alle bitten auszusteigen, meine Herrschaften, ich kann für Ihre Sicherheit nicht mehr garantieren. Ich öffne jetzt die Türen.«
»Dann lassen Sie die Türen geschlossen, statt sie zu öffnen!«, rief ein Mann. »Draußen ist es doch viel unsicherer als hier drinnen!«
»Aber draußen bin ich nicht für Sie verantwortlich«, antwortete der Schaffner, »bitte folgen Sie umgehend meiner Anweisung.«
Elisabeth erhob sich und trat vor die Dame: »Darf ich Ihnen beim Aussteigen behilflich sein, gnädige Frau?«, fragte sie und bot ihr eine Hand.
Schnaubend erhob sich die Dame. »Luder! Du gehörst auch zu diesen Weibern, das sehe ich dir an!«
»Oh, ich bin untröstlich«, erwiderte Elisabeth, »welche Weiber meinen Sie, gnädige Frau?«
»Die den Hals nicht vollkriegen! Die unser Vaterland in den Abgrund stürzen!«
»Wie Sie meinen«, antwortete Elisabeth, »ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.« Damit stieg sie aus dem Waggon und drängte sich durch den Tumult bis zur anderen Straßenseite. Bevor sie in eine Seitenstraße abbog, sah sie noch, wie der Hut mit der langen Straußenfeder, den die Dame auf dem Kopf getragen hatte, unter dem Gejohle der Menge hoch durch die Luft flog, während ihre Besitzerin hinterherstolperte und ihn aufzufangen versuchte. Sie tat ihr fast ein wenig leid.
Etwas an der Gneisenaustraße war anders als sonst. Elisabeth sah sich aufmerksam um. Alles schien an seinem Platz, in diesem Stadtteil funktionierte der Straßenkehrdienst noch. Es sah sauber und gefegt aus wie immer, nichts lag herum, was nicht hierhergehörte. Trotzdem spürte sie die veränderte Atmosphäre, irgendetwas lag in der Luft. Sie sah das Haus, den weißen Zaun, dessen Pforte geöffnet war. Sie verlangsamte ihre Schritte, dann blieb sie stehen. Die Haustür stand offen.
Und dann wusste sie es. Sie ließ ihre Handtasche fallen und lief den Weg zum Haus, so schnell sie konnte.
*
Es sei reiner Zufall gewesen, erklärte Robert ihr wenig später: Er sei zum Lazarett gegangen, um den Sitz seiner Prothese korrigieren zu lassen, als er den Neuankömmling mit dem Kopfverband erblickte, der auf einem Stuhl vor dem Behandlungszimmer saß und wartete. Er habe Wilhelm sofort erkannt.
Elisabeth saß auf Wilhelms Schoß und konnte ihre Augen nicht von ihm lassen. Immer wieder nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn, während Robert weitersprach. Wilhelms Verband sei entfernt worden, nachdem die Untersuchung gezeigt hatte, dass die Augenentzündung fast abgeklungen war. Nur die Bronchien seien noch in Mitleidenschaft gezogen, was einen Aufenthalt im Lazarett jedoch nicht erforderlich machte. Vorläufig habe Wilhelm Genesungsurlaub.
»Vorläufig«, wiederholte Elisabeth, »was soll das heißen? Wollen sie dich etwa noch mal holen, wenn sie meinen, dass du wieder genügend Luft bekommst?«
»Das ist es wohl weniger«, antwortete Wilhelm, »es gibt da ja noch diese Sache …«
»Sollen sie doch kommen«, ereiferte sich Robert. »Ich glaube allerdings, sie haben ganz andere Sorgen, als mit einem Husaren abzurechnen, der einen Beschwerdebrief geschrieben hat.«
»Immerhin haben sie mich dafür zum Tod verurteilt.«
»Und dich dann zum Helden werden lassen! Die Geschichte über Douaumont füllte wochenlang die Zeitungen.«
»Genützt hat es trotzdem nichts«, sagte Wilhelm. »Und jetzt brauchen sie jeden Mann. Kriegsgefangene, die von den Russen
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