Zeitfinsternis
würde. Trotzdem machte sich Guy darüber keine Gedanken. Warum sollte er auch? Er war am Leben. Er hatte sein Pferd, sein Schwert. Was brauchte er mehr? Außerdem war er mit einem Auftrag in fremdem Land unterwegs, in dem die Leute merkwürdig, die Abenteuer vor ihm zahllos und die Gefahren, die auf ihn warteten, unbekannt waren. Noch einmal überlegte er sich, ob er umkehren sollte.
Viele Anhaltspunkte hatte er nicht. Eine junge Frau, deren Namen er nicht kannte. Mit langem rotem Haar und… Dingern. Nein, das war wirklich nicht viel.
Auch Napoleon XV. freute sich, als er von dem einzigen Überlebenden auf Lothringerseite hörte, der Zauberer seines Vaters sei getötet worden. Seiner Meinung nach war der Einfluß dieses Mannes zu groß gewesen, größer als der von allen anderen Höflingen und Beratern zusammen. Der neue König war froh, daß er ihn los war; ihm wurde damit die Mühe erspart, Anders umbringen lassen zu müssen.
Sein erstes Problem war die Frage, was er mit dem Hauptmann anfangen sollte, der dem Gemetzel entkommen war. Es schien offensichtlich, daß Marcel Perier, so hieß der Mann, weggelaufen war – denn wenn er das nicht getan hätte, dann wäre er tot. Und doch war er es gewesen, der die Nachricht vom Tod seines Vaters überbracht hatte. Sollte er ihn wie einen Helden oder wie einen Verräter behandeln?
„Ist das alles?“
„Ja, Euer Majestät“, sagte der Mann mit der verstaubten rot-weißen Uniform, der mit gebeugtem Haupt vor dem Podest kniete, auf dem Napoleons geschmückter Thron stand. Napoleon saß darauf.
Der König musterte die Menschen in dem Raum, ohne seinen Kopf zu bewegen – die Handvoll Wachtposten, den neuen Hofarzt, Bischof Lamarck, Pierre, Hauptmann Perier, die Frau –, während er versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Es war nicht leicht, Herrscher zu sein. Seine Augen verharrten bei der Frau. Er wußte nicht, wer sie war. War sie mit dem Hauptmann hereingekommen? Er hielt das für wahrscheinlich. Aber warum hatte man ihr erlaubt hereinzukommen…Was wollte sie…Warum starrte sie ihn so an? Er fuhr sich nervös mit der Zunge über seine trockenen Lippen. Mit Frauen hatte er nie viel zu tun gehabt; seine Mutter hatte man in ein Kloster verfrachtet, sobald es so schien, als würde der Erbe, den sie produziert hatte, am Leben bleiben. Dann war da natürlich ein altes Kindermädchen gewesen, hinzu kamen die Dienst- und Putzmägde, ganz zu schweigen von den Gespielinnen seines Vaters. Er hatte immer nur Pierre zum Spielen gehabt, und er wußte, daß er reif für Besseres war.
Er winkte lässig mit seinem linken Arm. „Bringt ihn weg“, sagte er zu den Wachen.
Sie folgten seinem Befehl. Das hieß, daß Hauptmann Perier jetzt ihr Problem war. Vielleicht würden sie ihn in ein tiefes Verlies im Keller werfen, oder vielleicht würden sie ihn auch nur auf die Straße stoßen.
Der König sah sich um. „Laßt uns allein“, befahl er allen, die noch übrig waren; es war offensichtlich, wer mit dem ,uns’ gemeint war.
Er sah die Frau an, und die Frau sah ihn an.
„Die Beobachter, die Fells Tod gemeldet haben, müssen doch wissen, wer ihn umgebracht hat.“
„Sie haben Attilas Hofnarren im Verdacht, der einer von den wenigen war, die dem Massaker der Schlacht entkommen sind.“
Erster und M ASCHINE .
„Was soll ich jetzt machen? Was habe ich gemacht?“
„Nichts.“
„Nichts? Warum?“
„Wenn er beobachtet wird, verrät er sich vielleicht. Es scheint, daß er mit dem Massenmord etwas zu tun hat.“
„Und was dann?“
„Ich verfüge noch nicht über diese Information.“
„Hmmmm.“
M ASCHINE und Erster.
Er war in einer üblen Stimmung. Die Frau war weg. Er dachte von ihr noch immer als Frau, obwohl er wußte, daß sie nur ein paar Jahre älter als er war. Vielleicht hatte es damit zu tun, daß er von sich selbst nicht als Mann dachte, überlegte er. Aber er war König, oder etwa nicht? Und bei ihr hatte er sich auf jeden Fall wie ein Mann benommen. Aber warum war sie von ihm weggegangen? Wohin war sie gegangen?
… und was kümmerte es ihn schon? Napoleon XV. konnte jede Frau haben, die er wollte. Er brauchte sie nicht. Er konnte jede haben. Jede…
Aber das war nicht dasselbe gewesen. Er wußte, daß jene, die nachher gekommen waren, ihn ausgelacht und verspottet hatten. Sie hatten ihn wie ein zwar anmaßendes, aber unfähiges Kind behandelt. Und doch war er ihr König, und sie hatten zu machen, was er ihnen sagte. Aber
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