Zeitfinsternis
von ihr wißt.“
Der Bürgermeister starrte noch immer nach oben und sagte: „Frau? Welche Frau?“
„Die junge Frau“, sagte Guy und schob endlich sein Schwert wieder in die Scheide, „um die es in der Schlacht ging. Die Frau, die die Lothringer entführt haben.“ Er machte eine kurze Pause. „Da war doch eine Frau?“
„Ach, die Frau. Elendes Flittchen. Meine Tochter hat mir alles über sie erzählt. Wo ist meine Tochter denn? Immer noch am Schlachtfeld?“
Guy gab ein unverbindliches Geräusch von sich; der Bürgermeister hielt es für Zustimmung und sprach weiter:
„Sie hat hier nur ganz kurz gewohnt. Ich habe keine Ahnung, wo sie her ist, und nach allem, was ich gehört habe, ist sie nicht mit Gewalt entführt worden. Sie ist mit einem Haufen Fußsoldaten aus Lothringen weggegangen. Kleine Hure.“
„Wißt Ihr sonst noch etwas von ihr?“
„Mal überlegen.“ Der Mann leckte sich die Lippen. „Brandrotes Haar bis zur Hüfte. Brüste bis hierhin.“ Er krümmte seine dünnen Hände und hielt sie so weit von sich weg, wie er reichen konnte, und der jüngere Mann fragte sich, ob er tatsächlich so blind war, wie er vorgab. „Das hat mir meine Tochter erzählt, versteht Ihr“, fügte der Bürgermeister noch hinzu.
„Ihren Namen wißt Ihr nicht mehr?“
„Nein.“
„Sonst noch etwas?“
„Nein.“
„Vielen Dank.“ Guy zog sich zur Tür zurück.
„Meine Tochter weiß vielleicht ihren Namen“, rief ihm der Bürgermeister nach. „Sie kommt bald zurück. Fragt sie.“
Der Ritter schloß die Haustür hinter sich und ging zu seinem Pferd zurück. Er strich über die kurzen Stoppeln auf seinem pickligen Kinn, band das Pferd los und stieg in den Sattel. Es sah so aus, als würde er nach Lothringen reiten müssen. Selbst wenn Napoleons Armee nicht vernichtet worden wäre, hätte ihn nichts davon abgehalten. Es gab keine bewachte Grenze, aber der Ritter hielt trotzdem nicht viel von dem Unternehmen. Es schien jedoch keine Möglichkeit zu geben, darum herumzukommen, und er versicherte sich schnell selbst, daß er das auch gar nicht vorhatte. Der König hatte ihm einen Befehl gegeben, und den mußte er ausführen – den wollte er ausführen.
Er ritt auf die Grenze zu, die keine Grenze war. Es dauerte nicht lange, bis er Gilbert, sein Pferd, sah, das am Straßenrand im Schatten einer Kastanie lag. Er hielt das Tier, auf dem er ritt, an, stieg davon herab und ging zu dem hellgrauen Apfelschimmel hin. Gilbert war groß und häßlich, und Sir Guy hatte schon oft Bemerkungen überhört, in denen die Meinung geäußert wurde, daß man das Pferd besser dazu verwenden könne, einen Wagen zu ziehen. Der Ritter aber kümmerte sich nie darum. Schließlich war Gilbert… na eben Gilbert. Das wackere Roß schien unverletzt und ruhte sich wahrscheinlich nur aus, bevor es sich weiter auf den Weg zu dem Gut der von Angels machte.
Das Pferd kümmerte sich kaum um ihn, als er die Sattelgurte anzog und die Zügel überprüfte. Es erhob sich widerwillig, als Guy daran zerrte. Der Ritter band seinen Helm seitlich an den Sattel und sah sich seinen Schild an. Wo Gilbert darüber gelegen hatte, war er verbogen, und Guy überlegte sich, ob er ihn zurücklassen sollte. Kein Ritter sollte ohne Schild unterwegs sein – oder ohne Lanze, und die hatte er schon liegenlassen. Wenn er aber nach Lothringen ritt, würde ihn das Wappen mit der blauen Schlange sicherlich verraten. Aber er konnte es vielleicht später übermalen. Er zog den Schild herab und band ihn mit der Rückseite nach vorn wieder fest. Er überlegte sich, ob er das andere Pferd mitnehmen sollte, damit die Frau darauf wieder zurückreiten konnte; aber bis er diese Überlegung abschloß, hatte sich sein vorheriges Reittier schon anders entschlossen und war davongaloppiert. Guy kletterte in den Sattel und lenkte Gilbert auf die Straße.
Er dachte über die Verwandten von Baron Munchbold nach, die die wahren Besitzer von Gilbert waren. Außer ihm wußte das niemand; niemand, der noch am Leben war. Dann war da noch sein Bruder, der seinen Brustpanzer und seinen Helm zurückhaben wollte, und sein Vater, dessen Kettenpanzer er trug. Sie würden warten müssen. Er war für den König unterwegs. Wußten sie das aber? Würden sie nicht annehmen, daß er wie alle anderen gefallen war? Sir Guy war sich ziemlich sicher, daß Attila es entweder vergessen würde, seine Familie davon zu unterrichten, womit er beschäftigt war, oder sich einfach nicht darum kümmern
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