Zeitlos
Einhören.
Aller Augen richteten sich auf Henning, der Klavier spielte und dabei gleichzeitig mit dem Kopf oder einer Hand den Chor dirigierte. Dabei war unweigerlich auch das Schraubdeckelglas mit dem gekochten Reis in ihrem Blickfeld. Zum Erstaunen aller war er noch immer nicht verdorben und schwarz geworden, sondern hatte stattdessen eine leicht ins gelblich gehende, malzartige Farbe angenommen. Die Gegenprobe hatten sie bisher nicht zu Gesicht bekommen, die hatte Henning in einer Abstellkammer deponiert, wo sie von niemandem beachtet werden konnte. Heute wollte er sie in der Pause hervorholen, dann würden sie ja sehen.
Henning hob die Hand zum Zeichen, dass der Kanon mit Auslaufen einer jeden Stimme beendet werden sollte. Die Stimmen blieben, eine nach der anderen, auf ihrem letzten Ton stehen, endeten in einem wunderschönen Dur-Akkord bis Henning abwinkte.
»Wunderbar, ihr Lieben, ein schönes Liedchen…«, er wies auf den Reis, »…zu Ehren der lieben Reiskörner hier vor uns.« Alle schmunzelten.
»Ich bin ja wirklich gespannt, wie die Gegenprobe aussieht. Wir werden sie nachher holen, sie steht an einem geheimen Ort. Ich habe sie mir zwischenzeitlich nicht angesehen, denn wie die Pastorin sagte, sollte sie keinerlei Beachtung erfahren, auch keine Neugier, das wäre sehr wichtig. Aber, eigentlich bin ich nicht wirklich gespannt, denn ich gehe davon aus, dass sie verdorben und schwarz ist. Das ist schließlich der normale Gang der Dinge. Das hier, zeigt uns doch eigentlich schon genug.« Er hielt das Glas in der Hand und besah es von allen Seiten.
»Das Tolle an diesem Experiment ist doch, dass wir erkennen, dass positive Gedanken eine Kraft ausüben, die auf alles um uns herum wirkt. Unter diesem Gesichtspunkt mag jeder von euch über die Kraft von Gebeten nachdenken oder über die Kraft unserer Gospel. Wenn wir im September unser Konzert geben, dann werdet ihr erstaunt sein zu erleben, dass die Menschen nach einer solchen Aufführung wie verwandelt scheinen. Deshalb werden wir bis dahin auch noch einen schönen Abgesang üben, den wir am Schluss des Konzertes anstimmen, um unsere Zuhörer zu verabschieden und nach Hause zu entlassen. Dabei werdet ihr in das Gesicht eines jeden Einzelnen blicken und die Wirkung, die unser Konzert auf ihn hatte, unmittelbar erleben. Es ist, als wenn man mit diesem Gesang die Herzen der Menschen weitet, sie auf einer ganz anderen Ebene anspricht und sie damit berührt – jetzt habe ich euch mein Geheimnis verraten, warum ich meinen Beruf so liebe.«
»Und ich meinen«, fügte Kerstin ernst hinzu.
»Leute, redet euch doch nichts ein, nachher seid ihr umso enttäuschter, wenn die andere Probe haargenau so aussieht wie diese hier vor uns. Wer hat das überhaupt aufgebracht, dass die andere Probe verdirbt und schwarz wird? Das ist doch gar nicht gesagt.«
»Das habe ich gelesen«
»Und wir hatten das gleiche eklige Ergebnis bei unserem damaligen Experiment in der Schule. Und gestunken hatte das, als wir den Deckel aufschraubten – zum Schlechtwerden!« Jetzt bemerkte Henning die Doppeldeutigkeit seiner Aussage als mehrere kicherten. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Wisst ihr was? Wir warten nicht mehr bis zur Pause, die Ruhe ist dahin, um uns auf das Singen zu konzentrieren. Ich hole die Gegenprobe. Wer will, kann gern mitkommen, um zu sehen, dass ich nicht mogele.«
Er ging in die angrenzende Bücherei, deren Fensterfront in die gleiche Himmelsrichtung zeigte wie der Probenraum. Dort fischte er das Glas von einem Regal herunter, wo es vor Blicken geschützt, zwischen Büchern gestanden hatte. Es sah fies aus: Die Reiskörner waren geschrumpft und schwarz verklebt, an einer Seite war noch der Rest von Schimmel zu erkennen.
»Igittigitt!«
»Wahnsinn!«
»Das ist ja…!«
Solche und ähnliche Kommentare schwirrten durch den Raum. Sie kehrten in den Probenraum zurück und stellten das Glas neben die unverdorbene, fermentiert wirkende, helle Reisprobe. Alle waren ergriffen, so richtig daran geglaubt hatten einige wohl nicht. Rolf machte keinen Hehl aus seinem Zweifel. »Henning, hör auf mit den Taschenspielertricks. Wer sagt uns denn, dass du nicht nachgeholfen hast?«
»Aha, Rolf, unser ungläubiger Thomas. Thomas, Jesus skeptischer Jünger, wollte auch nur glauben, was er sehen konnte. Doch du Rolf glaubst nicht einmal das? Teste es zuhause selber, dann hast du die volle Kontrolle über das Experiment. Es funktioniert, sagte ich doch.«
Jetzt mischte sich
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