Zelot
heilige Würfel aus Holz und Stein, die der Hohepriester in einem Beutel nahe dem Herzen bei sich führt und durch die er den Willen Gottes offenbart, indem er eine Art Orakel wirft – dieses ganze Gepränge soll den exklusiven Zugang des Hohepriesters zu Gott symbolisieren. Durch all das unterscheidet sich der Hohepriester von allen anderen Juden auf der Welt.
Deshalb darf nur er das Allerheiligste betreten, und auch das nur an einem Tag im Jahr, an Jom Kippur, dem Versöhnungstag, wenn alle Sünden Israels ausradiert werden. An diesem Tag tritt der Hohepriester vor die Präsenz Gottes, um für die ganze Nation Sühne zu leisten. Wenn er des Segens Gottes würdig ist, sind Israels Sünden vergeben. Ist er es nicht, sorgt ein Seil um seine Taille dafür, dass er, falls Gott ihn erschlägt, aus dem Allerheiligsten gezogen werden kann, ohne dass irgendjemand sonst das Heiligtum entweihen muss.
Der Hohepriester stirbt tatsächlich an diesem Tag, wenn auch wohl nicht durch die Hand Gottes.
Nachdem die priesterlichen Segen gesprochen und das
Sch’ma Jisrael
gesungen ist («Höre Israel! Der Ewige [ist] unser Gott; der Ewige [ist] einzig!»), tritt der Hohepriester Jonatan vom Altar zurück und geht die Rampe hinunter in die äußeren Höfe des Tempels. Im Heidenvorhof wird er sofort von einem Taumel der Begeisterung geschluckt. Die Tempelwachen bilden eine Barriere der Reinheit rund um ihn, sie schützen den Hohepriester vor den befleckenden Händen der Massen. Und doch ist es für den Attentäter ein Kinderspiel, ihn zu finden. Er muss nicht dem blendenden Glanz seiner mit Juwelen besetzten Kleider folgen. Er muss nur auf den Klang der Glöckchen hören, die am Saum seiner Robe baumeln. Diese seltsame Melodie ist das sicherste Zeichen, dass der Hohepriester kommt. Der Hohepriester ist nahe.
Der Attentäter drängt sich durch die Menge, schiebt sich nahe genug an Jonatan heran, um seine Hand unbemerkt auszustrecken, die heiligen Gewänder zu fassen, ihn von den Tempelwachen wegzuziehen und ihn dort zu halten, nur einen Moment lang, aber lange genug, um einen kurzen Dolch aus der Scheide zu ziehen und ihn quer über seine Kehle gleiten zu lassen. Ein Opfer anderer Art.
Bevor das Blut des Hohepriesters sich auf den Boden des Tempels ergießt, bevor die Wachen auf den abbrechenden Rhythmus seiner Bewegungen reagieren können, bevor irgendjemand auf dem Hof merkt, was geschehen ist, verschwindet der Attentäter wieder in der Menge.
Sie sollten nicht überrascht sein, wenn er der Erste ist, der laut «Mord!» ruft.
Kapitel eins
Ein Loch im Winkel
Wer tötete Jonatan, den Sohn des Hannas, auf seinem Weg über den Tempelberg im Jahr 56 n. Chr.? Zweifellos gab es viele Menschen in Jerusalem, die den habgierigen Hohepriester nur zu gern erschlagen hätten, und nicht wenige, die am liebsten gleich die ganze aufgeblähte Tempelpriesterschaft mit ausgelöscht hätten. Denn wenn man über Palästina im 1 . Jahrhundert spricht, darf man nie vergessen, dass dieses Land – dieses geheiligte Land, von dem der Geist Gottes zum Rest der Welt strömte – besetztes Gebiet war. Überall in Judäa waren römische Legionen stationiert. Etwa 600 römische Soldaten standen sogar auf dem Tempelberg selbst, innerhalb der hohen Steinmauern der Burg Antonia, die die Nordwestecke der Tempelmauer stützte. Der unreine Zenturio mit seinem roten Umhang und polierten Harnisch, der mit der Hand am Heft seines Schwertes durch den Heidenvorhof stolzierte, war eine nicht gerade dezente Erinnerung daran, wer wirklich über diesen heiligen Ort herrschte – wenn es einer solchen Erinnerung überhaupt bedurfte.
Die römische Herrschaft über Jerusalem begann 63 v. Chr., als Roms Meistertaktiker Pompeius Magnus mit seinen Legionen als Eroberer in die Stadt einzog und den Tempel belagerte. Damals hatte Jerusalem längst seinen wirtschaftlichen und kulturellen Zenit überschritten. Die kanaanitische Siedlung, die König David zum Sitz seines Reiches gemacht, die Stadt, in der sein eigensinniger Sohn Salomo Gott den ersten Tempel errichtet hatte – der von den Babyloniern 586 v. Chr. geplündert und zerstört worden war –, die Stadt, die der jüdischen Nation ein Jahrtausend lang als religiöses, wirtschaftliches und politisches Zentrum gedient hatte, war, als Pompeius einzog, weniger für ihre Schönheit und Größe als für den religiösen Eifer ihrer störrischen Bevölkerung bekannt.
Jerusalem auf dem südlichen Plateau des
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