Zersetzt - Thriller (German Edition)
wurden bestimmt von Männern erfunden, die müssen ja auch nicht stundenlang darauf herumstolzieren.
»Die Schuhe verleihen deinen langen Beinen eine gewisse Unendlichkeit«, hatte Martin immer gesagt. Doch er wusste, dass sich Julia in bequemen Turnschuhen und zerschlissenen Jeans wohler fühlte. Bis vor sechs Wochen hatte sie dieses Exemplar Mann als Verlobten betrachtet. »Eine Wochenendbeziehung kann auch gut gehen«, hatte er gesagt. »Wir lieben uns, daran können auch 820 km Entfernung nichts ändern.« Bis sie ihn überraschend in Freiburg besucht hatte. Bis sie ihn mit einer Anderen erwischt hatte. Bis ihr die Augen geöffnet wurden. Ja, bis dahin waren 820 km kein Problem gewesen. Die zerpflückten Fotoschnipsel lagen zwischen den medizinischen Fachbüchern überall auf dem Boden verteilt. Julia bückte sich, rieb ihre müden Beine und gab den Schuhen einen herzhaften Tritt.
In der großzügig ausgebauten Mansardenwohnung in Berlin Grunewald standen ringsherum noch gepackte Kisten. Die Miete im Nobelviertel hätte sich Julia normalerweise nicht leisten können, doch ihr Vater hatte seine guten Beziehungen spielen lassen und so ein bezahlbares Quartier gefunden. Im Schlafzimmer entledigte sie sich der ungeliebten Kleidung, warf diese auf den vollgehängten Stuhl und streifte ihren bequemen Jogginganzug über. Auch hier lagen medizinische Fachartikel, Zeitschriften und Bücher kreuz und quer im Zimmer verstreut. Julia zwinkerte dem einäugigen Teddybär zu, der mitten auf dem französischen Bett thronte, und murmelte: »Guck nicht so, ich räume am Wochenende auf, fest versprochen.« Rein optisch war er keine Sehenswürdigkeit, dennoch konnte sie ihren Kindheitsbegleiter nicht einfach so entsorgen. Sie warf ihre langen blonden Haare nach hinten über die Schultern und band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. In ihren Gedanken vertieft, lief sie an der Kochecke vorbei, die in das Wohnzimmer integriert war. Ihr Magen knurrte. Seit Tagen hatte Julia nur unregelmäßig gegessen. Allerdings würde sie nicht so schnell verhungern, denn seitdem sie das Rauchen aufgegeben hatte, nistete sich auf ihren Rippen das ein oder andere Pölsterchen ein. Auf der Suche nach etwas Essbarem öffnete sie den Kühlschrank: eine Gurke, Milch, eine Flasche Mineralwasser und zwei Bananen. Sie schüttelte den Kopf, ging zum Küchenschrank und fand in dem heillosen Durcheinander eine Minutenterrine . Egal, das muss reichen . Da der Wasserkocher eines der wenigen Utensilien war, die sie in letzter Zeit in der Küche in Gebrauch hatte, stand er in greifbarer Nähe. Sie übergoss das trockene Pulver mit dem kochenden Wasser und ging zum Wohnzimmertisch. Dort schob sie einen Pizzakarton, eine halbvolle Flasche Rotwein und ein benutztes Glas zur Seite, rührte um und aß die dampfende Brühe. Ich sollte doch mal wieder aufräumen. Täglich pendelte Julia zwischen Redaktion und Krankenhaus, daher war keine Zeit für private Belange und schon gar nicht für den zeitraubenden Hausputz. Ihr Blick schweifte sehnsüchtig auf den kleinen Schreibtisch in der Ecke, auf dem ein Foto in einem alten, bemalten Holzrahmen stand. Er war von Kinderhand liebevoll gebastelt. Das Bild zeigte eine glückliche Familie. Mann, Frau und ein etwa zwölf Jahre altes Mädchen mit langen, blonden Zöpfen.
Julia musste etwas Luft schnappen und ging zur kleinen Loggia, die an das Schlafzimmer grenzte. Die Tür klemmte und ließ sich nur schwer öffnen. Ihr Blick wanderte zu der angefangenen Schachtel Zigaretten, die sie seit Wochen mutig ignorierte. Sie kämpfte kurz mit ihrem inneren Schweinehund, der ohne große Überredungskunst gewann. Nach dem ersten tiefen Zug an dem Glimmstängel musste sie husten und verteufelte das verflixte Nikotin. Nach dem zweiten erinnerten sich ihre Lungen an das süchtig machende Kraut und willigten wohlwollend ein.
Julia blickte an der alten großen Eiche vorbei auf die gegenüberliegende Dachterrasse einer Villa. Ein Mann saß dort in der Sonne und winkte zu ihr herüber. Oder meinte er sie vielleicht gar nicht? Sie war neu in Berlin und kannte noch niemanden. Ja, bestimmt hatte er einem Nachbarn zugewunken, der auch auf seinem Balkon stand.
Das Klingeln des Telefons unterbrach Julias Hypothese, sie drückte die Zigarette in den Aschenbecher und eilte ins Wohnzimmer.
»Elisabethen-Krankenhaus, Oberschwester Kati Schröder, guten Abend Frau Hoven.« Julia erschrak im ersten Moment.
»Was ist passiert, was ist
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