Zipfelklatscher
mir spontan als der kleinste gemeinsame Nenner für jemanden aus Mitteldeutschland.
»Nach Wien!«
»Du bist aus Wien? Das hört man dir gar nicht an!«
»Nun, ich spreche keinen Dialekt mehr, weil ich mal BWL in Passau studiert habe – und das Neandertaler-Bayerisch dort fand ich total unsexy. Ich habe mir dann als Trotzreaktion ein Eins-A-Hochdeutsch zugelegt.«
Trotzreaktion ist gut. Es war eher so, dass Passau eine pittoreske niederbayerische Stadt ist, deren Uni Schnösel-Sprösslinge anzieht wie Kuhmist die Fliegen. Nach meiner ersten Wortmeldung reichte ein Hörsaal voll kichernder Kommilitonen mit norddeutschem Migrationshintergrund, dass ich mir die Sache mit der Mundart noch einmal überlegt habe, und zwar nicht nur für die folgenden Semester, sondern für immer. Nur dass ich mir nicht den Wiener Schmäh, sondern das rumpelige Chiemgauerisch abgewöhnt habe. Aber Nils ist mit der Antwort zufrieden, und macht munter Pläne. Viel zu munter.
»Nach Wien wollte ich schon immer, da komme ich dich mal besuchen! Was machst du gleich noch mal beruflich?«
Da muss ich kurz überlegen. »Ich bin die einzige Frau unter den ganzen Chiemseefischern«, entspräche zwar der Wahrheit, aber ich habe keine Lust, mein Inkognito aufzugeben. Mein Pseudonym, klar, das weiß ich noch, den Namen habe ich mir extra zurechtgelegt: Wenke Fischer. Wenke reimt sich auf Renke [3] , und Fischer, naja, dazu muss ich nichts mehr sagen, oder? Aber welchen Beruf habe ich dem Böckel gestern Abend zwischen Lady Madonna und Highway to Hell ins Ohr geschrien? Kellnerin im Seniorenheim, Bibliothekarin einer Philatelistenvereinigung, Abfallwirtschaftsangestellte? Keine Ahnung. Ich mache einen neuen Versuch, der in Anbetracht der gehobenen Gesellschaft gestern Abend einigermaßen plausibel klingt:
»Ich bin Vorstandssekretärin.«
Das ist gut. Vorstandssekretärin klingt für erfolgreiche Männer total normal und für die weniger erfolgreichen total bedrohlich, da kommen sicher keine weiteren Fragen mehr. Ich spreche außerdem sehr leise und gähne vorsichtshalber, damit Nils sich darauf einstellen kann, dass ich keine Energie mehr habe für eine weitere After-Sex-Konversation. Aber der Böckel hat anscheinend ziemlich Feuer gefangen und verfällt in eine Art verliebte Babysprache.
»Menschdaschjatotalinteressantsüße«, nuschelt er selig. »Bei wem denn?«
Ausgerechnet jetzt fällt mir in meinem immer langsamer arbeitenden Kopf nur der Lehrplan aus dem letzten Jahr Fischerei- und Landwirtschaftsinternat ein.
»Bei, äh, einem Melkmaschinenhersteller!«
Das ist jetzt nicht unbedingt der kleinste gemeinsame Nenner für jemanden, der die Busen von Galeristengattinnen pimpt. Wer weiß, welche Gerätschaften der in seiner Praxis hat!
Nils richtet sich tatsächlich interessiert auf einem Ellbogen auf.
»Ich bin wirklich sehr müde. Lass uns ein bisschen schlafen, ja?«, flüstere ich matt und kuschle mich an seine piksende Brust, um ihn wieder zum Hinlegen zu bewegen.
Als Nils trotzdem anfängt, mir zärtlich am Kopf herumzufummeln, drehe ich mich vorsichtig weg. Zutraulichkeiten kann ich jetzt überhaupt nicht brauchen. Schon gar nicht, wenn der Böckel nicht merken soll, dass er seine Schönheitschirurgenfinger nicht durch echte Haare gleiten lässt. Also stelle ich mich schlafend und merke zu meiner Beruhigung, dass Nils’ Atem sich ebenfalls verlangsamt.
Ich warte. Warte, und zähle seine Atemzüge.
50, 51, 52, 53, …
Auch wenn ich diesen Mann wahrscheinlich nie wiedersehen werde: Der Arm quer über meiner Seite und der Männerbauch von hinten an der Wirbelsäule fühlen sich warm und schwer an. Nicht dass ich mir vorstellen kann, mein Bett auf Dauer mit jemandem zu teilen, aber für einen kurzen Moment lässt sich das ganz gut an.
60, 61, 62, 63, …
Ich strecke ein wenig widerstrebend die Hand nach meinem Kleid aus, das Nils achtlos auf die Nachttischlampe geworfen hat, bevor BH-Verschluss und Fischgeruch unseren Rausch der Leidenschaft ein wenig gebremst haben. Das Kleid ist schon ganz heiß von der Hitze der Glühbirne: 60 Watt sind definitiv zu viel für Polyester, auch wenn er daherkommt wie Seidenchiffon. So eine Fahrlässigkeit darf mir nicht noch mal passieren. Wenn ich mir in diese pfirsichfarbenen Rüschen ein Loch hineinbrenne, schaue ich dumm aus der Wäsche, sollte ich so einen Unsinn wie heute Nacht noch einmal wiederholen wollen. Denn Fränzis kitschiges Abiballkleid passt erstens perfekt zu
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