Zitadelle des Wächters
Zivilisation, verschwunden ist. Die vielleicht betrüblichste Hinterlassenschaft ist der Umstand, daß dieses Verschwinden in einem langsamen und häßlichen Prozeß vonstatten geht. Der Geist verließ die Welt nicht in der hochlodernden Flamme eines glorreichen Krieges, sondern er kroch während der langen Nacht der Ignoranz und Furcht von dannen. Der Prozeß verlief so langsam, so heimlich, daß niemand – praktisch niemand – das Verschwinden bemerkte. Oder besser: natürlich erst, als es schon zu spät war.
Aber man soll sich hüten zu sagen: Die Welt liegt im Sterben. Denn das ist ganz gewiß nicht der Fall. Präziser ausgedrückt könnte man vielleicht bemerken, die Welt überlebt ihrer Art zum Trotz und wird deshalb auch weiterleben.
Und in dieser Welt versuchen große Teile, ungetrübte Stücke und Stückchen, der Korrosion durch die Zeit zu entfliehen. Zum Beispiel ist ein großer Teil von einer launischen Wassermasse bedeckt. Die ist so blau wie die Augen eines vaisayanischen Mädchens und genauso wild und unberechenbar wie ihre Mutter und so trügerisch wie ihr Vater. Stürme und Ruhephasen spazieren Hand in Hand über die schimmernde Wasseroberfläche. Sie gewähren keinem Schiff und keinem Landstrich Schutz, und sie wollen auch kein Quartier. Vor allem gibt es da ein endloses, mürrisches Meer, das fälschlicherweise der Golf von Aridard genannt wird. Ganz sicher ist es kein Golf – es weist keinesfalls die nötige Ruhe und Gelassenheit aus, die dieser Begriff gewöhnlich assoziiert –, man muß es schon eher als kleinen Ozean bezeichnen. Ganz sicher aber führt er sich wie ein gehässiges Fräulein gegenüber den Staaten auf, die sich wie Landstreicher an einem großen Feuer an den Küsten niedergelassen haben. Der Golf von Aridard – Brennpunkt der Welt.
Genau westlich des Golfs liegt das Sonnenlose Meer – so bezeichnet wegen des kalten Dunstes und des Wassernebels, die immer und ewig die Sonne am fernen Horizont verdecken. Das Sonnenlose Meer ist ein monströser Ozean. Ständig in Bewegung, türmt er Wellen bis zu dreißig Ems hoch auf, mit Wellentälern, die noch einmal so tief sind. Über ihm hängen die grauesten und kältesten Himmel westlich der Eisenfelder. Mehrere Expeditionen sind von den Meeresstaaten ausgerüstet worden, um zu versuchen, in das Sonnenlose Meer einzudringen oder es gar zu durchqueren. Aber kein einziges von den großen Schiffen kehrte je zurück. Einige arg optimistische Schiffskapitäne haben ihre Reisen als „Durchquerungen“ ausgegeben, aber wir Historiker haben immer vor positivistischem Denken dieser Art gewarnt, setzt es doch die Existenz einer Landmasse oder einer Küste oder von irgend etwas am anderen Ende des Ozeans voraus.
Doch in der modernen Zeit ist kein Bericht bekannt, der die Existenz von irgend etwas jenseits des Ozeans bestätigt.
Legenden, Volksmärchen und Fragmente aus der Ersten Zeit und mündliche Überlieferungen sind zuhauf vorhanden: Alle diese Quellen sprechen von Landmassen – Kontinente nennt man sie –, aber die Namen dieser Ortschaften, ihre Lage, ihre Ausmaße und alles andere, was die Echtheit bestätigen würde, sind verlorengegangen – vielleicht sind sie auch nie bekannt gewesen.
Fahren wir mit dem geographischen Bericht fort: Man findet im äußersten Nordwesten des Golfs eine riesige Wüste, die unter dem Meeresspiegel liegt und vom Wasser durch ein kolossales Gebirge, bekannt unter dem Namen Haraneen-Scheide, abgeschottet wird. Dieses große wasserlose Gebiet heißt Manteg Depression und wird im allgemeinen von allen Bewohnern der Welt gemieden. Wilde Sand- und Staubstürme suchen die Manteg Depression in fast regelmäßigen Abständen heim. Die Gewalt, die blanke Wucht dieser Stürme, sei stark genug, so wird gesagt, um einem Menschen das Fleisch mit solch sauberer und entschiedener Effizienz von den Knochen zu trennen, wie das vom Skalpell eines Chirurgen nie geleistet werden kann. Die Radioaktivität in dieser Gegend ist immer noch überraschend hoch, wenn man bedenkt, wie viele ungezählte Jahre schon vergangen sein mögen, seitdem in dieser Region thermonukleare Waffen gezündet wurden. Einige Legenden wollen wissen, daß in der Manteg Depression immer noch Silos und Abschußanlagen stehen, immer noch verrostete und versengte Militärfahrzeuge liegen sollen – doch auch hier liegt für solche Behauptungen nicht der geringste Beweis vor. (Hoffentlich kann die pictographische – oder, wie manche insistieren:
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