Zitronen im Mondschein
festgelegt, hatte Madame Argent gesagt. Du musst dich für das Richtige entscheiden. Täglich, stündlich, minütlich aufs Neue. Aber Mirko hatte sich einmal falsch entschieden, und danach spielten seine Entscheidungen keine Rolle mehr.
Aus Marias Briefen an Chiara hatte Mirko früher hin und wieder etwas über Mirabella erfahren. Jetzt wusste er nichts mehr. Er dachte an sie, wenn er auf der Wiese an der Kornlach saß und die Gänse hütete. Ob sie verheiratet war, ob sie ein Kind hatte, ob sie und Maria sich miteinander ausgesöhnt hatten. Ob Wunder sie jemals gefunden hatte.
Was kümmert es dich? dachte er dann. Sie sind eine Familie, sie haben miteinander zu tun, aber du nicht, du gehörst nicht dazu. Und Agneta hob den Kopf und öffnete den Schnabel einen Spaltbreit, als wollte sie ihm etwas sagen und fände die Worte nicht.
Nördlingen 1930. In den Straßen mit dem buckligen Kopfsteinpflaster, mit den niedlichen Fachwerkhäusern ballte sich etwas zusammen. Eine Wut, ein Ekel, ein Hass auf alles, das anderswar. Juden, Zigeuner, Zwerge. Die Nazis in ihren braunen Uniformen waren überall. Mirko wich ihnen aus, er versteckte sich, so bald er sie von weitem sah, denn seine Zwergengestalt beleidigte ihre Augen.
Einmal war er nicht rechtzeitig ausgewichen, da hatten sie ihn in eine Ecke gedrängt und umstellt, fünf große Männer um eine kleine Missgeburt. Er war auf dem Weg zum Markt gewesen. Sie holten ein Ei nach dem anderen aus seinem Korb und schlugen es über seinem Kopf auf. Dann ließen sie ihn stehen. Besudelt, beschämt, voller Ekel vor sich selbst. Die Frau, die den ganzen Vorfall beobachtet hatte, wobei sie sich nur unzureichend hinter einem geblümten Vorhang am Fenster versteckt hatte, bekreuzigte sich drei Mal. Dann verließ sie ihren Fensterplatz, vielleicht brauchte sie auf diesen Schreck erst einmal eine Tasse Bohnenkaffee oder einen Schnaps.
Es würde immer schlimmer werden, je mehr Macht die Nazis gewannen. Er gab sich da keinen falschen Hoffnungen hin. Aber er hatte vorgesorgt. Bevor Madame Argent gestorben war, hatte sie ihm drei weiße Pastillen gegeben, die er für sie aufbewahrt hatte. Eine davon hatte sie selbst geschluckt. Zwei hatte er noch. Wenn es so weit wäre, würde er ihr folgen.
Wohin würde er ihr folgen? Sie war keinem von ihnen jemals wieder erschienen, nachdem Maria den Schneefuchs freigelassen hatte. Mit dem Fuchs war auch Madame Argents Seele befreit worden. Zumindest glaubte Mirko, dass das eine mit dem anderen zusammenhing. Denn von allen Tieren in der Menagerie hatte Madame Argent am meisten Mitleid mit dem Schneefuchs gehabt.
Vielleicht war es auch ganz anders. Diese Verbindungen zwischen Jenseits und Diesseits, zwischen spiritueller und wirklicher Welt, sie blieben immer vage. Man konnte sie nicht begreifen. Man konnte versuchen, die Hinweise zu deuten, die man bekam, doch meistens lag man damit genauso falsch wie Maria.
Wo war Madame Argent? Wo würde er selbst hingehen? Es gab heutzutage immer mehr Menschen, die meinten, dass alles aus war, wenn man starb. Man hörte auf zu atmen, der Körperverweste, die Seele löste sich auf. Aber Mirko wusste, dass der Tod nicht das Ende war. Diese Gewissheit verdankte er den Erscheinungen. Immerhin.
Es würde weitergehen. Madame Argent hatte den Schritt schon getan. Esmeralda, Marthe, Herr Lombardi, Meister Nikolas, Josef, Enrique. Mirko würde bald nachfolgen. Und später Maria und Mirabella.
Manchmal konnte er es kaum erwarten.
Nachwort
Mit meinem dritten Roman habe ich die magische Grenze des Jahres 1914 überschritten, mit der – wie ich erfahren musste – das Reich des historischen Romans endet und das mysteriöse Gebiet der Zeitgeschichte beginnt. Dennoch ist »Zitronen im Mondschein« für mich ein historischer Roman. Die Welt der zehner und zwanziger Jahre, in denen die Geschichte spielt, unterscheidet sich von unserer nüchternen Gegenwart mindestens so stark wie das Jahrhundert davor.
Dank all denen, die mir dabei geholfen haben, mir ein Bild von dieser fremden und faszinierenden Zeit zu machen.
Dr. Sabine Lenk, die Direktorin des Düsseldorfer Filmmuseums, vermittelte mir einen Eindruck von der Düsseldorfer Kinowelt in den zwanziger Jahren und eine Vorstellung von der Lage, Ausstattung und Ausrichtung der einzelnen Lichtspielhäuser.
Dem Komponisten und Dirigenten Mark-Andreas Schlingensiepen verdanke ich mein Wissen über die musikalische Begleitung von Stummfilmen, über Kinoorgeln, Kino-Orchester
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