Zons 03 - Kalter Zwilling
»Sie haben sich unsere Klinik sicher wegen der roten Etage ausgesucht. Wir beherbergen hier einige der gefährlichsten Gewaltverbrecher dieses Landes. Jeder dieser Patienten leidet unter einer extremen Persönlichkeitsstörung.« Professor Morgenstern erhob sich bei diesen Worten und ging hinüber zu seinem Aktenschrank, der verschlossen auf der linken Seite des Büros stand.
»Fünf Patienten haben ein psychopathisches Profil.« Er nahm einige Akten heraus und legte sie auf seinen Schreibtisch. Dann holte er eine Lesebrille aus seiner Schublade und setzte sie auf. Erstaunt stellte Emily fest, dass er jetzt wesentlich älter wirkte. »Einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der Psychopathie ist der kanadische Psychologe Robert Hare. Er hat eine Checkliste für die Identifizierung von Psychopathen entwickelt.«
Emily zückte ihren Block und notierte sich diesen Namen. »Woran erkennt man sie?«
»Das ist gar nicht so einfach. Generell liegt bei dieser Persönlichkeitsstörung ein völliges Fehlen von Empathie, Gewissen und Verantwortungsbewusstsein vor. Psychopathen sind mitunter extrem charmant und manipulativ. Ansonsten würden ihnen sicherlich viel weniger Opfer ins Netz gehen.« Professor Morgenstern machte eine kleine Pause und wartete, bis Emily ihre Notizen vervollständigt hatte. Er erklärte ihr, dass es im Wesentlichen zwei Arten von Psychopathen gibt. Den ausnützerischen Typen, einen sprachgewandten Charmeur, der mit Hilfe von Lügen und Manipulation seine Ziele erreicht, und den impulsiven Typen, der sich schnell langweilt, ständig Neues erleben will, oft einen parasitären Lebensstil an den Tag legt und sein Verhalten nicht wirklich unter Kontrolle hat.
Emilys Frage, ob Psychopathen generell »böse« seien, ließ Professor Morgenstern unbeantwortet. Dies war aus seiner Sicht eher ein philosophisches Problem. Jemand der weder Angst noch Reue empfinden und die moralischen Grundsätze eines gesunden Menschen nicht nachvollziehen konnte, musste sicherlich auch anders bewertet werden. Andererseits war Gewalt in der modernen menschlichen Kultur und in Friedenszeiten immer mit dem Bösen verbunden.
In der roten Etage der Klinik lebten fünf Psychopathen, wobei drei von ihnen fast vierzig Punkte auf der Hare Skala erreichten. Zwei hatten bereits mehrere Menschen kaltblütig ermordet. Henri Tiedemann war schon als Teenager gewalttätig und hatte im Alter von zwölf Jahren seine kleine Schwester vergewaltigt. Er gehörte in die Gruppe der impulsiven Psychopathen. Hans Dieter Wellenbrink war erst im Alter von fünfzig Jahren auffällig geworden. Er hatte über zwanzig Jahre hinweg mehrere Frauen entführt, gefoltert und anschließend ermordet. Er war Direktor in einem Versicherungsunternehmen, äußerst charmant und beliebt. Niemand aus seinem Umfeld hätte ihm solche Taten zugetraut.
Und dann gab es noch einen dritten Patienten in der roten Etage. Sein Name war Adrian Helmhold. Als kleiner Junge tötete er alle seine Haustiere. Er tat dies so geschickt, dass seine Mutter erst viel zu spät herausfand, dass Adrian dahintersteckte. Jeder Todesfall sah zunächst wie ein Unfall aus. Mal war das Wasser aus dem Aquarium ausgelaufen. Ein anderes Mal wurde ein Kaninchen von einer Drahtschlinge erdrosselt, die sich einfach so vom Käfig gelöst hatte, und zu guter Letzt starb der Familienhund an einer Vergiftung. Erst als die Mutter die Packung mit dem Gift im Kinderzimmer fand, erkannte sie ihren Irrtum und schickte Adrian zu einem Psychologen. Ungefähr ein halbes Jahr später musste er in die geschlossene Anstalt eingewiesen werden, da er seine Wutausbrüche nicht mehr unter Kontrolle hatte und mit einem Küchenmesser auf seine Tante losgegangen war. Zu diesem Zeitpunkt war Adrian gerade einmal neun Jahre alt.
»Das heißt, Adrian Helmhold sitzt jetzt seit 19 Jahren in der geschlossenen Psychiatrie? Gibt es denn keine Heilungschancen für ihn?«
Professor Morgenstern schüttelte nachdenklich den Kopf. »An der Universität in Tübingen wird zurzeit eine neue Therapiemethode getestet. Aber die steckt noch in den Kinderschuhen.« Er drehte die Akte um, sodass Emily das Foto von Adrian erkennen konnte. Ein blasser, unscheinbar wirkender Mann blickte sie aus unschuldigen Augen an. Emily staunte. Nie im Leben wäre sie darauf gekommen, dass dieser Mann ein Psychopath sein könnte.
Das Telefon riss Emily aus ihren Gedanken. Professor Morgenstern hob ab und runzelte die Stirn. Verstört legte er den Hörer
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