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Zorngebete

Zorngebete

Titel: Zorngebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Heymann
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habe ich geträumt, ich wäre an ihrer Stelle. Ich wäre es, die in die große Stadt fährt. Und dann hat das aufgehört, weil ich mir die große Stadt nicht richtig vorstellen konnte. Ich weiß nur, dass sie verlockend ist. Vor allem aber ist sie groß. Und allein schon, weil der
fkih
immer sagt, dass die große Stadt
haram
ist, würde ich sie nur zu gerne sehen …
    Wenn von Weitem der Bus zu hören ist, stecke ich den Kopf aus unserer Eingangstür aus Ziegenleder. Ich sehe schlafende Silhouetten, andere, die sich bewegen. Sie fahren weg. Wohin, spielt keine Rolle. Oder dass sie vielleicht zurückkehren. Immer wieder habe ich mir vorgestellt, wie ich mich eines Tages vor die Räder des Busses werfen würde, um ihn zum Anhalten zu bringen, damit ich einen Blick hineinwerfen könnte, wie er so ist. Nichts weiter. Nur um die Leute zu betrachten, die sich von einem Ort zum anderen bewegen. Später habe ich eingesehen, dass ich auch auf der Stelle tot sein könnte und dann von dem Bus und seinen Passagieren nichts mehr zu sehen bekäme, dass ich höchstens den Flammen der Hölle etwas früher anheimfiele, die meine kleine Mumu für all das Böse, was sie getan hat, verbrennen würden. Und all das Gute, was sie getan hat, das spielt wohl gar keine Rolle? Nein. Wieso eigentlich nicht?
    Wenn ein Auto oder ein Lastwagen auf der Straße von Zarfhir nach Balsouss entlangfährt, dann sind das in der Regel Schmuggler oder Gruppentaxis. Oder aber es sind Touristen.
    Einmal waren tatsächlich welche da. Sie haben angehalten und sind zu uns gekommen. Sie sprachen eine andere Sprache und sind ganz langsam vorgerückt, mit einer weißen Fahne. Es waren Amerikaner. Mein Vater ist schimpfend rausgegangen, was sonst, aber kaum hat er den Geldschein gesehen, krümmte er sich wie ein frischer Scheißhaufen. Wer von uns beiden ist hier eigentlich die Hure, ich, die die Beine breit macht oder er, der buckelt? Auf jeden Fall bin ich durch eine gute Schule gegangen …
    Sie haben Fotos von uns gemacht, haben in die Hände geklatscht und tausend Mal
houkwane
gesagt. Die Kinder haben mit unseren Kaninchen und Schafen gespielt. Alle waren fröhlich. Ich auch. Ich ärgere mich über mich selbst, dass ich mitgelacht habe an dem Tag. Viel mehr als darüber, für ein Raïbi Jamila gevögelt zu haben.
    Warum habe ich gelacht? Weil mein Vater gelacht hat. Warum aber hat er gelacht? Weil die Touristen gelacht haben. Warum aber haben sie gelacht, die Touristen? Weil sie uns lustig fanden. Wir müssen ihnen vorgekommen sein wie Tiere in Menschenkleidern. Die ihr Wasser aus Ziegenhäuten trinken, die sich die Zähne mit Holzstäbchen putzen und das Gesicht tätowieren, obwohl das zur Zeit gar nicht in Mode ist. Deshalb haben sie uns Geld gegeben, und deshalb haben wir sie über uns lachen lassen. Eine der Frauen sagte dauernd »Babe, Babe!« zu ihrem Liebsten. Babe, das heißt bei uns Tür. Also nannte sie ihn »Tür, Tür!«.
Das
ist lustig. Man muss schon ziemlich bescheuert sein, wenn man seinen Liebsten »Tür« nennt. Aber gut, es ist zu spät, um darauf zu reagieren.
    Und dann sind sie mit einer Unmenge von Fotos wieder zu sich nach Hause zurückgefahren. Und ich bin mit einer Unmenge von Erinnerungen bei mir zu Hause geblieben. Nicht unbedingt schlechten Erinnerungen, aber auch keinen guten. Und mit meinem Vater, der mich ausschimpft. Und meiner Mutter, die ununterbrochen nach mir ruft.
    – Jbara!
    Ja, natürlich, ich soll das Geschirr abräumen und spülen. Wie jeden Abend seit fünfzehn Jahren. Ich gehe hin, räume ab, zusammen mit meiner Mutter. Ich habe schon eine gewisse Bewunderung für sie. Sie hat keinen Raïbi Jamila, der auf sie wartet, bevor sie schlafen geht. Sie tut das alles ohne die geringste Belohnung. Moment … Und wenn doch? … Nein … Wer sagt mir denn, dass nicht? … Aber nein. Immerhin ist sie meine Mutter, sie ist eine Heilige, solche Dinge tut sie nicht … Nein, meine Mutter hat ihr ganzes Leben lang geschuftet, zuerst für ihren Vater, dann für ihren Mann, Punkt, das ist alles. Sie verlässt jedenfalls nie das Zelt, deshalb ist es auch ausgeschlossen, dass sie irgendwo einen Miloud hat.
    Nach dem Spülen gehe ich wieder raus, wie immer, um in der Nähe des Zeltes spazieren zu gehen, um die Sterne zu betrachten und meinen Granatapfeljoghurt zu trinken. Und meine zwei Schokokekse zu essen. Nur so kann ich es aushalten. Meine Belohnung. Mist, wenn ich an die Belohnung meiner Mutter denke … Mein Vater, mit dem hat sie

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