Nur dein Leben
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AN EINEM SPÄTEN APRILNACHMITTAG steht dreißig Seemeilen östlich von Cape Cod ein junges Ehepaar mit besorgten Gesichtern neben seinem Gepäck auf dem Hubschrauberlandedeck eines umgebauten Kreuzfahrtschiffs und umklammert im heftigen Wind die Reling.
Beide wissen, dass es für Reue zu spät ist.
Die
Serendipity Rose
ist vierzig Jahre alt und eine dicke Farbschicht bedeckt ihre Beulen, Risse und Nieten wie Make-up das Gesicht einer alten Nutte. Vom Heck flattert aus praktischen Gründen eine panamaische Flagge, und der gelbe Schornstein stößt eine Rauchfahne aus, die innerhalb von Sekunden vom Wind zerfetzt wird, während die
Rose
durch den aufkommenden Seegang pflügt. Sie macht gerade so viel Fahrt, dass die Stabilisatoren funktionieren. Ohne Eile, ohne festes Ziel kreuzt sie gemächlich außerhalb der Zwölf-Seemeilen-Zone, jenseits der Hoheitsgewässer der Vereinigten Staaten und damit außerhalb der Reichweite ihrer Gesetze.
John Klaesson trägt eine fleecegefütterte Jacke, Chinos und Ledersegelschuhe. Er ist Mitte dreißig, und man würde ihn eher für einen robusten Bergsteiger oder Forschungsreisenden als einen Wissenschaftler halten. Er ist einen Meter achtzig groß, schlank und durchtrainiert, hat kurze blonde Haare und freundliche blaue Augen hinter kleinen ovalen Brillengläsern. Sein Gesicht ist attraktiv und ernst, mit resoluten nordischen Zügen und einer leichten kalifornischen Bräune.
Seine Frau Naomi, die sich darauf konzentriert, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wird von einem langen Kamelhaarmantel gewärmt. Ihr Haar ist mittellang und modisch durchgestuft. Wirre Strähnen wehen ihr in das hübsche Gesicht und betonen ihren etwas jungenhaften Typ, obwohl ihr Teint gerade wesentlich blasser wirkt als normalerweise.
Einige Meter über ihnen schwebt der Hubschrauber, der sie soeben abgesetzt hat. Er bläst fettige Abgase in die wirbelnde Luft und schleppt seinen Schatten über den Schiffsaufbau wie einen großen, leeren Sack. Und genauso fühlt sich John gerade: als sei er aus einem Sack gekippt worden. Er hält den Kopf gesenkt, um sich vor dem Lärm und den Luftwirbeln zu schützen, streckt den Arm aus und stützt seine Frau. Unter dem weichen Kamelhaarmantel umfängt er ihre schmale Gestalt. Er fühlt sich ihr verbunden und verzweifelt nahe, erfüllt von Beschützerinstinkt.
Und Verantwortungsgefühl.
Der Wind bläst so stark, dass er in kurzen Zügen nach Luft schnappen muss. Durch das Salz beschlägt seine Brille und die Gischt trocknet seine vor Nervosität raue Kehle noch weiter aus. Strähnen von Naomis Haaren geißeln sein Gesicht wie schneidende Peitschenstränge. Das Deck unter ihm senkt sich und hebt sich gleich darauf wieder, drückt seine Füße empor wie ein Aufzug, drängt seinen Magen gegen seinen Brustkorb.
Zu dem Dröhnen des Rotors über seinem Kopf gesellt sich jetzt ein Schlurfgeräusch. Es war Johns erster Hubschrauberflug, und nachdem er eine Stunde lang in einem atlantischen Tiefdruckgebiet durchgeschüttelt und -geschaukelt worden ist, hat er keine große Lust, diese Erfahrung zu wiederholen. Ihm ist ein wenig übel und schwindelig wie nach einer wilden Achterbahnfahrt, bei der das Gehirn zur einen und die inneren Organe zur anderen Seite geschleudert wurden. Die Abgase machen es auch nicht besser, geschweige denn der stechende Geruch von Farbe und Bootslack oder das vibrierende Deck unter seinen Füßen.
Naomi legt den Arm um seine Taille und drückt ihn, so dass er es trotz seiner dick gefütterten Lederjacke deutlich spürt. Er kann sich ziemlich genau vorstellen, was ihr durch den Kopf geht. Es muss fast zwangsläufig dasselbe sein, was er denkt. Dieses unbehagliche Gefühl von Endgültigkeit. Bisher ist alles nur eine Idee gewesen, ein Gedankenspiel, das sie jederzeit unterbrechen konnten. Doch das ist jetzt vorbei. Als er sie ansieht, denkt er:
Ich liebe dich so sehr, Naomi. Du bist so mutig! Manchmal glaube ich, du bist viel mutiger als ich.
Der Hubschrauber stellt sich schräg, das Dröhnen des Motors schwillt an, der Scheinwerfer auf der Unterseite blinkt, dann schwenkt die Maschine in einem spitzen Winkel ab, flappt über das Wasser, steigt hoch auf und lässt sie zurück. Einige Augenblicke lang sieht John ihr nach; dann senkt er den Blick auf die gischtbrodelnde graue See, die sich weit bis zum diesigen Horizont erstreckt.
»Alles okay? Bitte folgen Sie mir.«
Vor ihnen steht der höfliche, sehr ernst dreinblickende Philippino in weißem
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