Zu feindlichen Ufern - [3]
Fast jeder Seemann kannte so eine Geschichte, die nicht selten ausgeschmückt wurde.
Ransome hatte Pulverspuren im Gesicht und wirkte erschüttert, als hätte er etwas erlebt, über das er nicht sprechen mochte.
»Sie dürfen sich einen Moment unter Deck begeben, Mr Ransome, wenn Sie möchten.«
»Danke, Sir.«
»Und, Ransome?«
»Sir?«
»Gut gemacht.«
»Danke, Sir.«
Der Leutnant hielt auf den Niedergang zu, taumelte leicht und stieg über die Leiter unter Deck.
»Wurde er getroffen, Mr Hawthorne?«, erkundigte sich Hayden bei dem Leutnant der Seesoldaten.
»Nein, Sir.« Hawthorne sah beinahe genauso erschüttert aus wie Ransome. Hayden rechnete schon damit, Tränen in den Augen seines Leutnants zu sehen. »Greenfield schrie und stöhnte, Sir – der Schmerz in seiner Schulter, wissen Sie? Der Leutnant wies seine Männer an, dafür zu sorgen, dass er still war – damit wir nicht entdeckt werden.« Hawthorne bewegte zwar noch die Lippen, brachte aber kein Wort mehr heraus. Schließlich fing er sich. »Ich fürchte, die Männer haben – ihn erstickt, Sir, aus Versehen natürlich.«
»Großer Gott. Sind Sie sicher, dass es ein Unfall war?«
»Ich stand im Bug, Sir, und hielt Ausschau nach den Franzosen. Ich kann Ihnen die Frage nicht beantworten.«
»Wer war alles daran beteiligt?«
»Tut mir leid, Kapitän, ich war nicht in unmittelbarer Nähe – Ransome müsste es wissen.«
»Ich kann jetzt unmöglich das Deck verlassen, daher muss ich ihn später befragen. Warum, glauben Sie, haben die Männer ihn getötet?«
»Ich denke, sie haben versucht, Greenfields Schreie mit einem Hemd zu dämpfen, Sir, aber dabei haben sie ihm offenbar die Luft abgedrückt.«
»Sie glauben nicht, dass er an seiner Verletzung gestorben ist?«
»Das müsste der Doktor beurteilen, Kapitän, denn ich kenne mich da nicht aus.«
»Wir werden es wohl nie erfahren«, sagte Hayden leise. »Sie dürfen dann gehen, Mr Hawthorne.«
»Danke, Sir.« Doch der Leutnant blieb noch stehen.
»Mr Hawthorne?«
Der Leutnant nickte, rang sichtlich um Worte. »Es waren alles gute Leute, Sir. Kein Schurke darunter.«
»Das will ich glauben, Mr Hawthorne. Ich bin mir sicher, dass es nicht mit Absicht geschehen ist, aber …« Hayden sah Hawthorne in die Augen. »Aber Mord ohne Absicht bleibt Mord, dem Gesetz nach – Gott helfe ihnen, wenn es so war.«
Der Leutnant der Seesoldaten entfernte sich, und Hayden blieb an der Reling stehen. Obwohl das Meer ruhig war, suchte er Halt an der Reling. Ein leiser Fluch entwich ihm. Noch bevor Philip Stephens ihn auf die Themis geschickt hatte, war es an Bord zu einem Mord gekommen. Wurde die Themis doch vom Unglück verfolgt, wie es oft hieß? Wieder stieß er einen Fluch aus. In dieser Angelegenheit musste er sehr vorsichtig vorgehen – die Sache würde mit ziemlicher Sicherheit vor ein Kriegsgericht kommen. Und Ransome – er hätte seinen Kapitän über den Vorfall informieren müssen. Hayden hätte es nicht zuerst von Hawthorne erfahren dürfen. Es konnte doch nur ein Unfall gewesen sein, ging es ihm immer wieder durch den Kopf. Der Gedanke, dass es Mord gewesen sein könnte, belastete Hayden im Augenblick mehr als die gegenwärtige Situation.
Er versuchte, sich gedanklich von dieser Angelegenheit zu lösen. Beizeiten würde die Sache verhandelt werden. Doch im Augenblick gab es für ihn als Kapitän drängendere Fragen.
Wieder ertönte das dumpfe Donnern von Bordgeschützen im Nebel. Drei Schüsse im gleichen Abstand, gefolgt von einer Pause und zwei weiteren Schüssen.
Hayden suchte den Blick seines Masters, der auf der schmalen Bank den Hals reckte und aufgeregt von einer Seite zur anderen schaute.
»Was könnte das bedeuten, frage ich mich?«
Barthe zuckte mit den Schultern. »Ich wünschte, ich wüsste es, Sir. Das war ein anderes Signal als zuvor.«
Aus allen Richtungen des Kompasses wurde das Signal beantwortet.
»Sechs Schiffe«, bestätigte Barthe. »Und alle verdammt nah bei uns, Sir – wo auch immer.«
Die Themis glitt langsam in eine Nebelbank, und die feuchte Luft schien alles zu kühlen. Im selben Moment sackten die Segel schlaff herunter und bewegten sich kaum noch, während das Schiff sanft von einer Seite auf die andere rollte.
»Kann denn der Wind nicht mal eine halbe Stunde konstant bleiben!«, schimpfte Barthe.
Der Bug wurde vom Nebel verschluckt, bis Hayden nicht einmal mehr den Fockmast sehen konnte. Genauso gut hätten sie in den Wolken schweben können, die
Weitere Kostenlose Bücher