Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
man noch Leben, von dir geht uferlose Traurigkeit aus. Hast du schon alles aufgegeben?Weil in unsere Karolinenthaler Wohnung auch noch meine inzwischen verheiratete ältere Schwester mit ihrem arbeitslos gewordenen Mann und einem kleinen Söhnchen einzog, wollte ich, kaum war ich achtzehn Jahre alt, diese übervölkerte Behausung tunlichst schnell verlassen. Mitbestimmend war dabei mein dringender Wunsch nach Selbständigkeit. Infolge der verschlechterten finanziellen Lage der Familie war ich bereits längere Zeit angestellt und somit für mein bestehendes und, wie ich hoffte, einmal auch »besseres« Dasein verantwortlich. Stand, wie man sagt, schon auf eigenen, wiewohl noch ein bißchen unsicheren Füßen. Überdies vollzog sich in meinem Leben gerade noch eine weitere grundlegende Veränderung: Ich erhielt meinen ersten journalistischen Posten in der aus Hitlers Drittem Reich in unsere Stadt emigrierten AIZ-Arbeiter-Illustrierten-Zeitung.
Auf der Suche nach eigenen vier Wänden, denn eine Untermiete kam nicht in Frage, da hätte ich ja gleich in der elterlichen Obhut bleiben können, zog ich kreuz und quer durch Prag. Eines Tages hatte ich dann endlich Glück. Mitten in der Altstadt, in unmittelbarer Nähe des geschäftigen Zentrums und nur wenige Schritte vom historischen Kern entfernt, fand ich in der Melantrichgasse Nr. 7 unter dem Dach eine winzige Mansarde mit fließendem Wasser und einem großen Fenster. Die Lage, vor allem aber dieses nicht auf die Straße, sondern nach hinten ins Freie ausgerichtete Fenster gaben den Ausschlag. Auch war das Zimmerchen so klein, daß ich die Miete dafür problemlos aufbringen konnte. Meine Einrichtung bestand aus einer schmalen Couch, die mir Freunde überlassen hatten, einem kleinen Schreibtisch, einem Stuhl, einem elektrischen Kocher und einem einflügeligen Kleiderschrank. Wollte ich diesen Kasten öffnen, mußte die Zimmertür zu sein. Wollte ich sie aufmachen, mußte der Schrank geschlossen bleiben. Mein Frühstück servierte ich mir auf dem Schreibtisch, die Toilette befand sich in einem Miniaturvorraum und wurde auch von meiner Nachbarin aus dem etwasgrößeren Zimmer zur Straße hin benützt. Der begegnete ich nur selten.
All das war gut, aber nicht allzu wichtig. Wunderbar war es, im Herzen der Stadt und nicht mehr an ihrer Peripherie in der endlos langen Vorstadtstraße zu wohnen. Und dann der Blick aus dem Fenster! Kaum war ich eingezogen, kaufte ich einen Blumentopf mit einer dunkelrosa blühenden Zyklame und stellte ihn auf den Schreibtisch. Nun war ich hier zu Hause.
Meine Übersiedlung in die Melantrichgasse fand im Frühling statt. Aus meinem Fenster über den Dächern, Giebeln und Türmen der Altstadt konnte ich bis zu den hellgrünen Hängen des einstigen Laurenziberges und nunmehrigen Petřínhügels blicken. Wenn man scharf hinschaute, konnte man die groben, zackigen Umrisse der sogenannten Hungermauer erkennen, die den Hang in zwei Teile trennt und von Karl IV., dem gütigen »Vater Böhmens«, errichtet wurde. Durch diesen Eingriff sollen der Prager Kleinseite etliche Weinberge zugefallen sein. Die gibt es leider längst nicht mehr, inzwischen ist der Petřín vor allem zum ersten Mai – aber durchaus nicht nur dann – zum gern und traditionell aufgesuchten Ort für Stelldicheins von Prager Liebespaaren geworden. Symbolisch muß dabei dem dortigen Denkmal des Dichters Karel Hynek Mácha ein Besuch abgestattet werden. Auch Václav Havel hat mit seiner Frau Olga an dieser Tradition festgehalten.
Auf dem Petřín duftete der Flieder, dort steckten die Kastanienbäume voll weißer und rosa Blütenkerzen, und die Rasenflächen waren mit unzähligen kleinen Sonnen des Löwenzahns gesprenkelt. So genau konnte ich all das aus meinem Fenster natürlich nicht wahrnehmen, aber ich wußte davon, und an lauen Abenden segelten die Duftwolken bis zu mir herüber; ich lag im Fenster, schaute in das Dämmerlicht und war ganz eingesponnen in meine Prager Traumwelt.
Das Haus Nr. 7, in dem ich wohnte, ist das schmalste inder kurzen Melantrichgasse. Das gefiel mir, und dabei war ich froh, daß mich – was überraschend war – in dem alten Bau ein Aufzug bis hinauf zu meinem Dachzimmer transportierte. Wenn ich jedoch aus der kleinen Haustür trat und nach wenigen Schritten vor dem Altstädter Rathaus stand, tauchte ich manchmal, wie von unsichtbarer Hand gelenkt, in der Welt von Gestern und Vorgestern unter, in der Prager Judenstadt. Hier vermeinte ich geradezu das
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