Zu Hause in Prag - manchmal auch anderswo
Wie sie wirklich heißt, weiß ich nicht. Aber als ich die junge Frau mit dem unwahrscheinlich weißen Gesicht in eine ziemlich saubere Decke gehüllt auf einem Treppenabsatz am Weg zur Londoner Royal Festival Hall kauern sah, still, ein bißchen abweisend, offensichtlich auf Almosen wartend, aber keineswegs (oder noch nicht?) bettelnd, fiel mir ein, sie könnte Virginia heißen. Vielleicht wegen einer gewissen Ähnlichkeit mit dem schönen, durchgeistigten Antlitz und den traurigen Augen der Schriftstellerin Virginia Woolf.
Ich liebe dieses Stückchen London am südlichen Ufer der Themse mit dem Blick auf den respekteinflößenden, von jahrhundertealter Geschichte imprägnierten Komplex des Parlamentes, vor allem aber mag ich den unruhigen Fluß mit seinem Auf und Ab von Ebbe und Flut, den geschäftig dahinziehenden Handelskähnen und Schleppern und den Dampfern mit laut in verschiedenen Sprachen plappernden Touristen. Hier rieche ich, schmecke ich geradezu schon die Nähe des Meeres, die Aufgeschlossenheit der Welt.
Während man diese Aussicht genießt, hat man eine Konzerthalle, Ausstellungsräumlichkeiten, Cafeterias, ein Filmmuseum, einen Buchladen und fliegende Kioske – auch solche mit Büchern – hinter sich. Auf der asphaltierten Flußpromenade rasen Kinder und Jugendliche auf Rollschuhen und ständig perfektionierten Rollplanken vorbei, während ihrer Mittagspause hetzen männliche und weibliche Jogger in sportlicher Aufmachung am Wasser entlang. An seiner Uferböschung sind in regelmäßigen Abständen Rettungsringe befestigt, mit dem strikten Hinweis, sie dürften nur im Notfall benützt werden. Im Notfall? Heißt das, wenn,Gott bewahre, ein Dampfer strandet, oder sollten hier manchmal Menschen ...
Ich sehe Virginia vor mir, ihr weißes Gesicht, die traurigen Augen. Aber nicht nur sie. Auf den Stufen zur Waterloo-Brücke gehe ich oft an einem Mann vorbei, der hier meistens mit einem Hund sitzt und die Passanten um »Kleingeld« anbettelt. Oben auf der Brücke verkaufen Obdachlose ihre Zeitschrift »Issue«.
Dieses Nebeneinander, dieses Auf und Ab, Ebbe und Flut, in unser aller Leben zwingt zum Nachdenken. Seit ich auf der Welt bin, und das ist schon ziemlich lang, gibt es für viele Menschen keine Arbeit. Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, ist vor allem in den Jahren nach dem letzten großen Krieg in erschreckendem Ausmaß noch etwas neues Böses hinzugekommen: Obdachlose. Virginia in ihrer dünnen Jacke. Auch nachts?
Einmal mußte ich mich in London für die hiesigen Verhältnisse früh, das heißt kurz vor neun Uhr, zum Zahnarzt begeben. Auf der tagsüber pulsierenden Verkehrsader Strand im Zentrum der Riesenmetropole war es noch relativ ruhig. Fast geräuschlos und fließend glitten nur einige elegante Limousinen vorbei, die unbeirrbar an ihrer Tradition festhaltenden kastenartigen Taxis und zweistöckige Stadtbusse. Unter den großen Schaufenstern feiner Geschäfte mit zauberhaften Toiletten, vielversprechender Kosmetik und dem märchenhaften Angebot von köstlichen Früchten und Leckerbissen aus nahezu aller Herren Länder lagen und schliefen noch die Londoner Obdachlosen. In Decken eingewickelt, manche in Schlafsäcken, andere nur in Zeitungen und Plastikhüllen verpackt. Sie waren von Kopf bis Fuß vermummt, diese Menschengestalten unter den Schaufenstern des Überflusses, man konnte nur ungefähr ahnen, ob hier ein Mann oder eine Frau schlief. Als ich unwillkürlich stehenblieb, machte mich jemand darauf aufmerksam, daß diese Menschen oft auf Gittern lagen, durch die heißer Dampf aus den Heizanlagen hochstieg. Die Zentralheizung der Obdachlosen.
Gleich allen anderen Passanten setzte auch ich meinen Weg fort, blickte nur immer wieder bestürzt zu den abgelegten Paketen ähnelnden Häuflein unter den großen blitzenden Glasscheiben hin und machte dabei mit einemmal eine ganz persönliche überraschende Entdeckung. Wo immer ich gewesen bin, wohin mich auch meine unruhigen Geschicke verschlagen haben, stets und überall war ich mit einem Dach über meinem Kopf versehen. Sie waren zwar recht verschiedenartig, meine vier Wände auf dieser Welt, mitunter nicht gerade einladend, manchmal ein wenig kurios, aber selbst wenn sie keineswegs wohnlich waren, erklärte ich sie dennoch zu meinem privaten Winkel und – sei es auch nur vorübergehend – zu meinem freiwilligen oder auch aufgezwungenen Zuhause. Das konnte eine Freude sein oder wenigstens ein Spaß, notfalls ein letzter
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