Zu Staub Und Asche
daher machten die Eltern sich zunächst keine Sorgen. Als sie aber anfing, sich zu übergeben, und die Eltern sie eilig ins Krankenhaus brachten, war es bereits zu spät. Die Ärzte konnten nur noch den Hirntod feststellen.«
Marc schauderte. »Das ist sicher eine sehr traurige Geschichte, aber ...«
»Sein Leben war ruiniert. Etwas Schlimmeres hätte nicht passieren können.« Cassie schien ein Selbstgespräch zu führen. »Sie standen sich so nah, dass es schon nicht mehr normal war, aber das machte es ihm natürlich nicht leichter. Er erzählte mir, dass ihr Tod ihn vor Trauer und Wut fast verrückt werden ließ. Er verspürte tiefen Hass auf den Freund, aber das war noch nicht alles. Er machte auch die Eltern mitverantwortlich. Die Familie driftete auseinander. Damals war er erst dreizehn, also noch sehr jung. Innerhalb von achtzehn Monaten starben seine Eltern bei einem Autounfall. Auch der Freund starb bei einem Kletterunfall. Manchmal habe ich mich gefragt, ob ... okay, es ist nichts als Spekulation. Laut ausgesprochen wurde nie etwas, noch nicht einmal zwischen uns beiden. Und dabei sollten wir es lieber auch belassen.«
»Was hast du dich gefragt?«
»Hörst du denn überhaupt nicht zu?« Ihre Stimme wurde laut vor Wut. »Wenn ich hier schon Seelenstriptease mache, dann kannst du verdammt noch mal wenigstens zuhören!«
Marc fühlte sich, als hätte sie ihm eins über den Schädel gegeben. Das war nicht die Cassie, die er kannte. Armes Ding, sie schien sehr zu leiden. Und alles war die Schuld dieses ominösen Freundes, keine Frage!
»Verstehst du jetzt, warum er so geworden ist?« Sie biss die Zähne zusammen und bemühte sich um Ruhe. Marc hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. »Wir sind alle das Produkt unserer Erfahrungen. Als wir uns kennenlernten, zog uns eine geradezu unheimliche Macht zueinander hin. Es handelte sich weniger um Begierde als vielmehr um ein Verlustgefühl, das wir miteinander teilten. Aber natürlich war auch sexuelle Lust dabei.«
So viel hatte er gar nicht wissen wollen. Ihre Liebschaften aus der Vergangenheit interessierten ihn nicht. Nur die Zukunft zählte.
»Wir hatten die Bücher im Blut.« Cassies Wut war verraucht; ihre Stimme klang wieder träumerisch. »Durch ihn lernte ich de Quincey kennen - den berühmtesten Abhängigen der englischen Literatur. Er erzählte mir auch von Elizabeth, der Schwester, die starb, als de Quincey noch ein Junge war. Eine Tragödie, die sein Leben ebenso beeinflusste wie Olivias Tod das Leben von Ro.«
»Ro?« Marcs Ton sagte so viel wie: Um Himmels willen, was ist das denn für ein Name? In seinem Kopf drehte sich alles. In Cassies Gesellschaft war er immer ein wenig außer Kontrolle geraten, aber das hier war etwas anderes. »Ro?«
»Das war sein Spitzname. Seine Eltern waren Lehrer, daher die Anlehnung an die klassische Literatur. Sie nannten ihre Kinder Roland und Olivia. Ich nenne ihn nur Ro. Ich begehrte ihn vom ersten Augenblick an und war von ihm besessen. Ich glaube, ich bin es noch immer.« Sie quetschte Marcs Finger in ihrer knochigen Hand. Marc spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten. »Das Schöne war, es beruhte auf Gegenseitigkeit. Er war verrückt nach mir. Bereits den Gedanken, ein anderer könne mich auch nur berühren, ertrug er nicht. Zu Beginn neckte ich ihn wegen seiner Eifersucht, doch er machte mir schnell klar, dass er daran nichts zum Lachen fand. Selbst wenn ich ganz brav blieb - so wie du und ich immer brav geblieben sind -, machte das keinen Unterschied. Er hasste es.«
»Du hast ihm doch nicht etwa von dir und mir erzählt?«
»Was gibt es denn da zu erzählen?« Ihre Lippen verzogen sich zu einem maliziösen Lächeln. »Aber Ro und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Mich hat interessiert, wie er sich dabei fühlen würde.«
Marcs Kehle war trocken, und seine Stimme krächzte. »Du hast ihm doch nicht etwa erzählt, dass wir etwas miteinander haben?«
»Aber genau das wolltest du doch.« Wieder dieses Lächeln. »Oder liege ich da etwa falsch?«
»Aber ...«
»Ich gehöre Ro - ihm ganz allein.«
»Du bist doch keine Sache«, sagte er. »Kein Bes ... Besitz.«
Mist, jetzt begann er auch noch zu nuscheln. Er konnte es kaum fassen. Und dann dieses Hämmern in den Schläfen. Wie war es nur möglich, dass er so viel getrunken hatte, ohne es zu bemerken?
»Verstehst du denn nicht?«, fragte Cassie. »Es ist so wunderbar beängstigend, besessen zu werden.«
»Aber ...«
»Hast du dich
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