Zuckerpüppchen - Was danach geschah
auch für die Frauenzeitschrift, bei der sie als Kolumnistin arbeitete, engagierte sie sich mehr und mehr. Und obwohl sie noch immer zitterte, ging sie zu wildfremden Menschen und interviewte sie. Sie hatte sich ein Gerüst von kleinen Hilfen aufgebaut, mit dem sie mehr oder weniger gut funktionierte. Und ihr Wille, sich, komme was wolle, nicht von ihrer Behinderung unterkriegen zu lassen, half ihr. Denn so sah sie ihr Zittern: eine wirkliche Behinderung, mit der sie leben mußte. Sie nahm meistens vor dem Interview eine Beruhigungstablette, dann wurde die größte Angst unterdrückt. Wenn sie irgendwo klingelte, in eine fremde Wohnung kam, sorgte sie dafür, daß sie sich so schnell wie möglich hinsetzen konnte. Das war der kritischste Punkt: nicht zu lange allein stehen zu müssen. Im Sitzen war alles einfacher. Ein Getränk lehnte sie meistens ab, da sie befürchtete, ihre Hände würden zu sehr zittern. Ein Glas mit Wasser war noch zu akzeptieren, das konnte man fest umfassen, eine zierliche Tasse mit Kaffee oder Tee war schwieriger. Aber sie wollte diese Interviews machen, sie wollte nicht wirklich abhängig werden und das Haus nicht mehr verlassen können. Und dann waren da Gespräche mit Menschen, bei denen sie betroffen die Tasse Kaffee an den Mund führte und vergaß, daß sie eigentlich immer zitterte. Da war der junge Mann, blind und fast taub, der voller Hoffnung einen Arbeitsplatz suchte. Fröhlich und ungebrochen erzählte er ihr, wie er mit den kleinen Tücken des Alltags zurechtkam, ganz alleine wohnte. Oder zitterte sie nicht, weil er sie nicht sehen konnte? “Wie schön”, sagte er zum Abschied, “daß Sie sich ihr Gefühl als Journalistin bewahrt haben. Ich dachte immer, die sind alle abgebrüht.” Hatte er doch mehr gesehen als andere?
Da war die junge Frau, die auf dem Nachhauseweg vom Schwimmbad von drei Kollegen im Kleinbus vergewaltigt worden war und die noch immer Schuldgefühle hatte, weil sie in den Wagen eingestiegen war. “Ich hätte es wissen müssen”, klagte sie sich selbst an, “sie hatten etwas getrunken, es war meine Schuld.” Was ist es doch, dachte Gaby, daß wir Frauen uns immer selbst die Schuld geben? Ist das Selbstzerfleischung, oder haben wir den einen oder anderen Defekt, daß wir die Geschehnisse nicht objektiv betrachten können? Da war das Gespräch mit der Frau des Bürgermeisters, die es als selbstverständlich ansah, daß sie in der Öffentlichkeit immer nur als “seine” Frau angesehen wurde, daß man sie nur und ausschließlich auf ihre Qualitäten als “Frau des Bürgermeisters” hin beurteilte. Die es sich beinahe nicht verzeihen konnte, daß sie wegen starker Rückenbeschwerden ihren Mann bei den letzten Repräsentationspflichten nicht zur Seite hatte stehen können. Warum, dachte Gaby, warum will sie nicht hören, was ihr Rücken ihr sagt?
Da war der alternde Schauspieler, der ewige Charmeur, der mit sich und der Welt haderte, weil sein Typ nicht mehr gefragt war, weil er privat vereinsamte. “Nicht einmal meine eigenen Kinder rufen mich an”, klagte er, “dabei bin ich doch ihr Vater!” Warum, dachte Gaby, warum sieht er nicht einmal in den Spiegel und fragt sich, was für ein Vater er war, als die Kinder ihn gebraucht hätten. Warum geben Männer so oft anderen oder bestenfalls den Umständen die Schuld, während Frauen sich auf die eigene Brust klopfen und unter Schuldgefühlen gebückt gehen? Sie schrieb ihre Artikel, war froh, Kontakt mit anderen Menschen zu haben und konnte sich selbst zur Seite schieben, ihre Sorgen und Probleme vorübergehend relativieren. Ihr Mann war auf dem Wege der Besserung, er konnte schon wieder halbtags arbeiten gehen, die Kinder wuchsen und gediehen, ihr Haus war gemütlich und warm, was machte da schon ihr Zittern aus, ihre dummen, durch nichts zu begründenden Ängste?
Neuerdings ging Hubert immer früh ins Bett. Die Arbeit strengte ihn mehr als früher an. Er war müde. Eine Tatsache, zu der er sich nur im Familienkreis bekannte. Wenn sie Besuch hatten, drehte er auf wie immer, war er der charmante, geistreiche, stets muntere Tausendsassa. Wenn er mit Gaby schlafen wollte, sagte er: “Kommst du mit nach oben”, und Gaby sagte “ja”, ging mit ihm ins Bett, wusch sich hinterher, zog sich ihren Bademantel über und saß vor dem Fernseher, bis der letzte Film abgelaufen war. Ihr Manuskript war fertig, und der Druck, nun das schreiben zu müssen, was sie fürchtete, woran sie vielleicht zugrunde gehen
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