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Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Titel: Zuckerpüppchen - Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Hassenmüller
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Eltern?” Das war der Punkt. Man ging davon aus, daß die Familie der beste Schutz war. Die Familie war heilig. An diesem Gemäuer durfte man nicht rütteln, die Familie als Eckpfeiler der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die an diesem Eckpfeiler rüttelt, befürchtet, unter der Lawine begraben zu werden.
    Sie wischte ihre Tränen ab und schrieb weiter. Es ging nicht nur um sie. Es ging nicht um das eine, mißbrauchte Geschöpf, es ging um all die anderen Kinder, die heute noch in der gleichen, scheinbar ausweglosen Situation lebten. Es ging um die Macht der Männer über die Frauen, es ging um Macht und Ohnmacht. Ich will deutlich machen, dachte sie, wie groß die Hemmschwelle der Betroffenen ist, um Hilfe zu rufen, wenn die Schuld immer wieder beim Opfer gesucht wird und der Tatort Familie mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt wird. Die Opfer haben keine Schuld, keine Schuld, keine Schuld, hämmerte sie in die Tasten und fiel über ihre eigenen Worte. Wie, um Gottes willen, sollte sie die Szene beschreiben, als sie sich für ein Paar Turnschuhe verkaufen mußte? Dafür bist du aber lieb zu mir, hatte Pappi gesagt. Sie hatte sich dafür bezahlen lassen. Eine Hure von dreizehn Jahren? Warum hast du dich nicht totschlagen lassen, haderte sie mit dem Kind, warum warst du nicht stark genug? Und sie begriff, daß sie in der damaligen Situation keine andere Möglichkeit gehabt hatte. Ihre Mutter hatte die Hand von ihr gezogen. Sie drohte mit Selbstmord, wenn ihr Mann sie noch einmal betrügen würde. War das betrügen, was Pappi mit ihr tat, hatte das Kind sich gefragt? Wie sollte das Kind dann noch reden? Es konnte die Verantwortung für den labilen Zustand der Mutter nicht übernehmen.
     
    “Du siehst schlecht aus”, sagten ihre Freundinnen. Sie nahm ab, hatte tiefe Ringe unter den Augen. Sie ging nicht mehr zur Therapie. Sie hatte begriffen, daß sie jetzt schreiben mußte. Sie konnte nicht mehr anders.
    “Mutest du dir nicht zuviel zu?” fragte Jean sie, der sie sich anvertraut hatte. “Kannst du das durchhalten?” — “Ich weiß es nicht”, sagte sie, “aber ich habe keine Wahl mehr.” Und sie meinte, was sie sagte. “Für wen willst du deine Geschichte aufschreiben”, fragte Jean sie. “Hast du eine Zielgruppe?” Sie hatte noch nicht darüber nachgedacht. Alle sollten sie es lesen. Alle, die so leichfertig sagten: “Das wird schon nicht so schlimm gewesen sein”, die zur Seite sahen, tatenlos zusahen, oder sogar behaupteten, kleine Mädchen seien oft so, hätten das ganz gerne. Der verdammte Lolita-Effekt. Aber in erster Linie wollte sie es für die Kinder schreiben, die dasselbe erlebten. Sie sollten eher um Hilfe rufen, als sie es getan hatte. Sie sollten immer wieder um Hilfe rufen, solange, bis man sie hörte. Dann hatten sie noch eine Chance. Sie hatte keine Chance mehr, glaubte sie. Sie würde an dem Buch zugrunde gehen. Aber das machte nichts mehr. Später würden ihre Kinder begreifen, daß sie nicht schlecht gewesen war. Daß sie nur beschädigt war, wie das kleine Schimpansenbaby, das keine Liebe gekannt hatte. Bei ihr war nicht mehr viel zu retten, glaubte sie. Sie hatte ihrem geliebten Mann das Leben schwer gemacht mit unberechtigten Verdächtigungen, hatte sogar ihre beste Freundin in Gedanken mit Schmutz beworfen. Beste Freundin? Ursel hielt sich in der letzten Zeit zurück. Sie fuhr viel zu ihren Eltern, die mit einem Wohnortwechsel beschäftigt waren, hatte immer öfter keine Zeit für Gaby. Aber Gaby hatte auch immer weniger Zeit für die gemütlichen Kaffeestunden. Seit Dagmar umgezogen war, machten sie auch nicht mehr ihre Einkäufe zusammen. Stets bröckelten mehr vertraute Rituale ab. Macht nichts, bald ist doch alles zu Ende, tröstete Gaby sich. Wer weiß, wie hinterher alles ist. Hinterher, wenn das Buch geschrieben ist. Aber ich will, daß Hubert mich begreift, dachte sie, er muß es lesen.
    Eines Abends gab sie ihm das Manuskript. “Es ist beinahe fertig”, sagte sie, “Ich bitte dich, es zu lesen.” Vielleicht war da etwas in ihrer Stimme, das ihn anrührte. “Ist gut”, sagte er. “Ich lese es.” Und während Gaby an dem Schluß arbeitete, die letzten demütigenden Ereignisse vor ihrem inneren Auge abrollten, las Hubert die Geschichte ihrer Jugend. Als er nach Mitternacht zurück ins Wohnzimmer kam, war er blaß. “Ist das alles wahr?” fragte er. “Ja”, sagte sie. “Es fehlt nur noch vieles, für das ich keine Worte fand.” — “Oh, mein Gott”,

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