Zuckerpüppchen - Was danach geschah
und sie zärtlich an sich gezogen. Gaby war gerührt gewesen. Ihre Ehe mit Robbie war nur standesamtlich besiegelt worden, so war ihre Scheidung auch kein kirchliches Hindernis. Sie hatten dann doch davon abgesehen, weil der Papierkram, die erste Ehe Huberts mit Charlott für ungültig erklären zu lassen, zu aufwendig erschien. “Außerdem”, hatte Hubert gesagt, “waren natürlich auch in dieser Ehe gute Momente.” Welch nobler Charakter, hatte Gaby damals gedacht. Schließlich hat seine Frau ihn betrogen. Das Warum und Wieso dieses Betruges war für sie zu diesem Zeitpunkt nicht in ihren Überlegungen aufgetaucht.
Auch während ihrer Ehe spielte die Kirche eine beträchtliche Rolle. Die Kinder wurden getauft, gingen zur ersten Kommunion, und Daniel wurde gefirmt. Und sonntags gingen sie mit den Kindern an der Hand zur Messe. Und wann immer Gaby glaubte, das große, dunkle Loch würde sie verschlingen, oder das Ticken der Zeitbombe zerreiße ihr Trommelfell, dann versuchte sie sich in den gemeinsamen Kirchgängen wieder aufzubauen. Es war doch unmöglich, daß dieser Mann, der neben ihr aus voller Brust von Treu und Glauben sang, der innig die Hände zum Gebet faltete, der mit demütig gesenktem Kopf zur Kommunion ging, nicht ein lieber, ehrlicher, treusorgender Familienvater war? Oft liefen ihr vor Scham über sich selbst die Tränen über die Wangen. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind den Beichtstuhl verlassen hatte, weil der Kaplan sie ermahnt hatte: Bekenne und bereue! Sie hatte damals nicht bekennen können: Ich tue Unkeusches in Worten und Taten. Ihr Mund war versiegelt durch Angst und Scham.
Und auch jetzt, wenn sie zu der Marienstatue blickte, war diese unverändert rein und unschuldig. Als einziger Mensch ohne Erbsünde. Konnte ihr jemand helfen, der nicht wußte, was eine Sünde war? Das hatte das Kind gedacht. Die Frau hoffte auf ihre Güte: Heilige Maria, vergib mir. Ich weiß, ich bin schwach, krank. Wie kann ich diesen wunderbaren Mann neben mir immer wieder verdächtigen? Vergib mir. Gib mir Kraft, meine Schwäche zu überwinden, so wie ich auch die Kraft gefunden habe, meine Jugend zu überwinden. Du weißt, daß ich damals “un-schuldig” war. Als Kind habe ich das nicht gewußt, und noch immer fühle ich mich schuldig. Hilf mir, dieses Gefühl zu überwinden.
Oft nahm Hubert ihre Hand und drückte sie. Und wenn er sie ansah, mit diesem Blick, der ihr sagte: Alles ist in Ordnung, mach dir keine Gedanken, ich bin bei dir, ich schütze dich, auf mich kannst du dich verlassen — dann war auch Gaby imstande “Großer Gott, wir loben dich” zu singen.
Sie hatte, wenn überhaupt, ein kindliches Verhältnis zu Gott. War er der Vater, den sie seit ihrem sechsten Lebensjahr suchte? Auf jeden Fall schien es ihr hin und wieder eine tröstliche Idee, daß da oben vielleicht, eventuell, doch jemand die Fäden in der Hand hielt. In ihren dunkelsten Stunden war sie überzeugt, daß da niemand war, der ihr helfen konnte. All das Elend auf der Welt, welchen Sinn sollte es haben? All die Verzweiflung, die Not, die Angst, die sie erlitten hatte, warum? War sie eine von Geburt an Gezeichnete gewesen? Das Kainsmal auf ihrer Stirn, wer hatte es ihr gegeben?
Aber jetzt hatte sie die Kraft gefunden, ihre Kindheit aufzuschreiben. Diese Kindheit, die keine war. Sie hatte sich selbst freiwillig an den Pranger gestellt. Sie hatte die Maske abgenommen und die Schlangen herausquellen lassen. Sie bekannte sich mit Namen und Gesicht zu ihren Taten. Zu den Taten, die doch nicht ihre gewesen waren. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Und sie bat um die Kraft, alleine stehen zu können.
Noch einmal brach sie zusammen. Die Veröffentlichungen in der Zeitschrift lösten in Huberts Familie einen Wirbelsturm aus. Seine Mutter bekam einen Schwächeanfall und mußte sich “wegen der Schande” ins Bett legen. Laura sprach von einer “großen Geschmacklosigkeit”, und Cornelia brach den Stab über sie. “Schlimm genug, daß du das alles getan hast, mußt du dann auch noch darüber sprechen, ja sogar darüber schreiben?”
Gaby hielt die letzte Veröffentlichung ihrer Serie in der Hand. “Krieg”, hatte sie zu Pappi gesagt und: “Ich hasse dich”. Und sie hatte nur ein Ziel vor Augen: Sie mußte überleben, noch Jahre, noch Monate, noch Tage durchhalten. Was hatte sie nicht ertragen, wie hatte sie gekämpft — und wofür? Die Angst hatte sie nicht verlassen. Sie wurde verurteilt von den Menschen, die sie
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