Zuckerpüppchen - Was danach geschah
Sag um Gottes willen nichts zu Gaby, flehte er. Sie würde es sich zu sehr zu Herzen nehmen. Er schwor mir, es nie wieder zu tun. Er liebe doch nur dich, und das sei ein Ausrutscher gewesen, mehr nicht. Und ich glaubte ihm. Oder besser gesagt, ich wollte ihm glauben. Du warst schwanger. Ich wußte, wie sehr er dies Kind gewollt hatte, deshalb habe ich dir nichts gesagt.” — “Ja, mach dir keine Gedanken. Das war schon in Ordnung.”
Danach brach sie zusammen. Sie schrie und schrie, riß sich die Bluse vom Leib, zerkratzte sich die Haut, warf sich auf den Boden, jammerte, kotzte, schrie, schrie. Auch als sie schwanger war, auch damals, als sie sich jeden Tag eine Spritze geben mußte, um nicht wieder eine Fehlgeburt zu bekommen, als sie das Kind trug, das er wollte, das sie wollte, ein Beweis ihrer Liebe. Dieser Scheißkerl, dieses Ungeheuer, dieses Monstrum. All die Jahre hatte er sie belogen und betrogen. Er hatte sie immer wieder mit ihrer Jugend im Zaum gehalten. “Dein Mißtrauen, ein Beweis deiner Jugendschäden. Deine Gefühle, alle Unsinn, du mußt lernen, Vertrauen zu haben. Wie kannst du nur so etwas von mir und deiner besten Freundin denken!” Dieser Scheißkerl, dieses Ungeheuer, dieses Monstrum. Sie schrie und schrie. Irgendwann einmal flößte ihr jemand etwas ein. Jean? Jean!
“Er ist es nicht wert”, flüsterte sie ihr zu. “Trink das! Du darfst nicht durchdrehen. Denk an deine Kinder.” Die Kinder! Ach Gott, die Kinder! Ihr Schreien wurde leiser, ging über in ein Schluchzen und Greinen, war nicht mehr aufzuhalten. Viel später saß ihr Hausarzt an ihrem Bett, gab ihr eine Spritze. Als sie ruhiger wurde, hörte er ihren unzusammenhängenden Bericht, ihre gestammelten Verwünschungen, ihre Anklagen, gegen Hubert, gegen sich selbst. Und dann war sie leer; eine dunkle Wolke kam und hüllte sie für einige Stunden in einen todesähnlichen Schlaf.
Am nächsten Tag stand sie auf. Sie wollte nicht liegenbleiben. Wenn sie jetzt liegenblieb, würde sie nie mehr aufstehen. Und da waren ihre Kinder. Blaß und zu Tode erschreckt huschten sie durch das Haus. Wo war Daniels unbekümmertes Lachen geblieben, wo Alex’ munteres Geplapper? Er, dieser Teufel, er hatte das auf dem Gewissen. Ich hätte es wissen müssen, ich hätte es nach den ersten zwei Monaten, zwanzig Tagen und zehn Stunden wissen müssen. Damals, mit Patty. Aber er hatte vor ihr auf den Knien gelegen, sie beschworen, sie angefleht, nie wieder... Ich Rindvieh, ich unglaublich blöde Ziege! Sie riß sich mit der Haarbürste ganze Büschel von Haaren aus, besah sich dies eigenartige Gesicht im Spiegel, dessen Züge zu einer Totenmaske erstarrt waren. Sie schluckte drei, vier Beruhigungstabletten. Sie wollte auf den Füßen bleiben. Sie redete mit den Kindern. “ Ja, wir haben Streit. Jeder kann sich einmal streiten. Ja, ich bin sehr traurig, aber das wird schon wieder Vorbeigehen.” Sie schämte sich ihrer Lüge.
Mittags rief sie Ursel an. “Ich will mit dir reden. Morgen abend paßt es uns. Gerd kommt auch? Ja, bis dann.” Dies konnte doch alles nicht wahr sein. Gleich würde sie wach werden, sich verwirrt im Schlafzimmer umsehen und erleichtert in ihr Bett zurücksinken. Dies mußte ein Alptraum sein!
Am nächsten Abend kamen Ursel und Gerd.
“Ich weiß es auch erst seit zwei Tagen”, sagte Gerd und stopfte sich seine Pfeife. “Eine schöne Schweinerei.” Er sah zu Hubert. “Mein Freund.”
Hubert schenkte Wein ein, einen Baron Rothschild von 1979. Das Jahr, in dem Alex geboren wurde. In dem Jahr war er hinter der Clubfreundin Angelique hergewesen. “Wußtest du das”, fragte Gaby zynisch, “du denkst doch nicht, daß du die einzige gewesen bist?” Ursel zog hilflos die Schultern hoch.
“Wann hat es angefangen”, wollte Gaby wissen, “wann?” Es schien so wichtig, zu wissen, wann es angefangen hatte. Dann konnte sie vielleicht noch ein Stückchen ihrer Erinnerung bewahren. “Alex war ungefähr ein Jahr alt, glaube ich.” Ursels Stimme flatterte wie ein erschreckter Vogel durch das Wohnzimmer.
“Also doch.” Gaby trank ihr Glas in einem Zug leer. “Also doch. Damals, vor unserer Reise nach Kolumbien. Ich habe es gefühlt. Ich habe es immer gefühlt.”
Sie sah ihre Freundin an, die liebe, sanfte Ursel. Bei der sie sich geborgen gefühlt hatte, die sie oft in mütterliche Fürsorge eingehüllt hatte, der sie vertraut hatte, immer wieder — gegen ihre Intuition, der sie geraten hatte, es doch bei ihrem
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