Das Möwennest (Het Meeuwennest) (German Edition)
Prolog
„Du hättest nicht herkommen sollen“, kreischte die Gestalt vor ihm und hob das Beil hoch über den Kopf.
Er lag auf dem Boden. Seine Waffe war ihm aus der Hand geglitten und bei dem Versuch den plötzlichen Angriff abzuwehren, hatte ihm die Gestalt mit dem Beil die rechte Hand abgehackt. Die Nacht war dunkel und mondlos. Ein unruhiger Wind blies über die Plattform und trug das Gekreische hunderter Möwen an sein Ohr. Sein Bewusstsein jedoch hatte dafür keinen Platz. Die Angst und höllische Schmerzen verdrängten alles andere.
„Er hat mich geschickt. Er weiß, dass du hier bist“, ächzte er und hob flehend die übriggebliebene Hand.
„Er weiß, dass er es niemals zurückbekommen wird“, fauchte die Gestalt. „Es gehört hierher. Es ist mein.“
„Bitte, hör mich an“, flehte er. „Ich kann… kann nichts dafür… erfülle nur einen… einen Auftrag… Ich… Bitte…, töte mich nicht… Familie… ich habe Familie…“
Die Gestalt ließ das Beil sinken. Ihr Gesicht konnte er unter dem tiefliegenden Regenhut nicht erkennen. Etwas flatterte dicht an seinem Ohr vorbei, setzte sich neben ihm auf den Boden und gab ein abscheuliches Krächzen von sich. Mit bösen Augen schaute ihn der Vogel an und hackte dann auf die Bohle.
„Dich töten?“, fragte die Gestalt nach einer Weile und begann zu lachen. „Nein, ich werde dich nicht töten. Das erledigt dieser Ort für mich. Du hättest nicht herkommen sollen, jetzt ist es zu spät. Ich werde sie wissen lassen, dass du hier warst, versprochen.“ Die Gestalt beugte sich herunter und sammelte die abgetrennte Hand auf, dann drehte sie sich herum und ging davon. Er sah, wie sie im Inneren des Gebäudes verschwand und blieb allein auf der Terrasse zurück. Einige Sekunden später erschien am Nachthimmel eine riesige schwarze Wolke, dunkler als die Nacht. Sie näherte sich und noch bevor er in der Lage war irgendwie zu reagieren, stürzte der Schwarm bereits auf ihn herab. Vögel, es waren tausende, schwarz mit roten Augen. Er schrie in Panik, versuchte aufzustehen, wollte fliehen. Todesangst schnürte ihm die Luft ab. Rasiermesserscharfe Schnäbel bohrten sich in seine Haut. Klauen krallten sich in seinen Kopf. In seinen Ohren dröhnte das Krächzen der Vögel und übertönte seine eigenen Schreie. Wahnsinnig vor Angst und Schmerz stemmte er sich hoch, wankte zum Geländer. Vielleicht konnte er sich mit einem Sprung in die Fluten retten. Die Tiere ließen es nicht zu. Sie waren überall, zerfetzten ihn unerbittlich, hackten ihm in die Augen, so dass er nichts mehr sah. Blut, an seinem ganzen Körper ran Blut herab. Er spürte es. Das Ende. Einen Moment hielt er den Angriffen der Möwen noch stand, dann war es vorbei…
Kapitel 1
Samstag 29. Juni
11:45 Schouwen-Duiveland
Die kleine Touristengruppe scharrte sich erwartungsvoll um ihren Leiter, einen dicken glatzköpfigen Mann in Hawaiihemd und weißer Trekkinghose. Mit fünfzehn Leuten standen sie am Strand von Schouwen-Duiveland und ließen sich vom Wind an der Kleidung zerren. Das Wetter war wechselhaft. Für einen Moment standen sie in der gleißenden Frühsommersonne und begannen zu schwitzen, um im nächsten Augenblick von einer frostigen Böe daran erinnert zu werden, dass sie sich doch lieber eine Windjacke hätten mitnehmen sollen.
Als bereits das erste unruhige Gemurmel aufkam, räusperte sich der Glatzkopf.
„Also“, sagte er dann laut, „das ist die letzte Station unserer kleinen Führung. Hinter mir seht ihr eines der verrücktesten Projekte, die Schouwen-Duiveland je zu Gesicht bekommen hat, das Restaurant Het Meeuwennest .“ Er reckte seinen fetten Arm in Richtung Meer und alle Blicke folgten ihm. Auf einer Sandbank, einige hundert Meter vor dem Strand, stand ein einsames Gebäude. Mit dem Festland war es über einen hohen, baufälligen Steg verbunden, der bis hinauf zur nächsten Düne lief, um dort an einem Stacheldrahtzaun zu enden.
Aus der Ferne erkannten die Touristen nur schlecht, dass die Wände des heruntergekommenen Bauwerkes einmal weiß gewesen sein mussten. Der Schriftzug, der nun groß und düster über der breiten Eingangstür prangte, hatte vor Jahren noch golden in der Sonne geglänzt. Genau wie die mit Brettern vernagelten Fenster, die einstmals die heranrollenden Wellen gespiegelt hatten.
„Ari Sklaaten, durchgeknallter und exzentrischer Küchenchef des Rotterdamer Nobelrestaurants De Zeester , kam bereits in den 70ern auf die
Weitere Kostenlose Bücher