Zuckerpüppchen - Was danach geschah
mehr zurück.”
“Bist du nicht doch ein wenig erleichtert?” fragte Natalie. “Ich meine, jetzt, wo eine Entscheidung gefallen ist? Die letzten fünf Monate waren doch wirklich die Hölle für dich.” — “Erleichtert? Nein, meine Welt ist kaputt, ich stehe auf einem Trümmerhaufen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute denke ich nur an ihn, frage ich mich, wie er uns das antun konnte, wie ich weiterleben soll ohne ihn. Er ist mein Leben, wie soll ich essen, schlafen, trinken ohne ihn?” Sie erinnerte sich an ein anderes Gespräch mit Natalie, vor einigen Wochen. “Ich wollte nie so werden wie du”, hatte Natalie gesagt. “Du warst so zugeschnürt von Angst, du klammertest dich an ihn, ihr wart so erstickend aneinandergebunden. Mir graute vor so einer Beziehung.” Gaby sah an ihrer Tochter vorbei. Sie wußte, sie sollte dankbar sein, daß diese sofort am nächsten Tag nach Huberts Auszug gekommen war, bei ihr geschlafen hatte. So lieb zu ihr war. Aber sie fühlte nichts als eine abgrundtiefe Verzweiflung. Stundenlang saß sie vor einer brennenden Kerze und versuchte, sich auf die Flamme und auf das kraftvolle Gesicht des Heilers zu konzentrieren. Dann sackte etwas von der Verzweiflung weg, lockerte sich der eiserne Ring um ihre Brust.
Manfred kam, fiel ihr weinend in die Arme, brachte ihr einen Strauß roter Rosen: “Für die beste Mutter der Welt! ” Er sah schlecht aus. Trotz ihres eigenen Schmerzes sah sie die Ringe unter seinen Augen, den scharfen Zug um seinen Mund. “Ich gehe in eine Therapie”, sagte er. “Ich will davon loskommen. Ich bin froh, daß du es endlich weißt. Das Lügen war das Schlimmste.” — “Du schaffst es”, sagte sie und berichtete ihm, einer Eingebung folgend, was Behn über ihn gesagt hatte. “Keine Angst, er kann sich aus den Klauen des Spielteufels befreien.” Manfred lachte sie nicht aus. Er sah auf seine kurzgeschnitteten Fingernägel, flocht die Finger ineinander. “Hat er das wirklich gesagt? Ich meine, war das nicht nur ein Trost?” — “Der Mann würde nicht lügen”, sagte Gaby und erinnerte sich, wie er bei ihrer ersten Behandlung gesagt hatte: “Ich gebe nur die Kraft weiter, die ich erhalte. Ich sehe und fühle mehr als andere Menschen. Aber ich muß mit dieser Gabe sorgfältig umgehen, wahrhaftig sein. Lug und Betrug gehören zu den schwarzen Mächten, den negativen Kräften. Dagegen schirme ich mich ab, damit will ich nichts zu tun haben.” Gaby vertraute ihm. Zweimal in der Woche fuhr sie zu ihm, ließ sich ‘bestrahlen’, tankte von seiner Kraft und flehte ihn an, sie auch zu benutzen, Huberts Geist zu erleuchten. “Er kann doch nicht einfach gehen, die Kinder sind verzweifelt, morgens weiß ich nicht, wie ich den Tag überstehen soll.” — “Ruhig”, sagte er und strich über ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern. “Sie schaffen das. Sie haben viel Kraft. Der Weg zur Freude, zum Glück, geht vorbei an tiefer Verzweiflung. Aber Sie schaffen es.” Er ließ seine Energie mit seinen Händen in sie übergehen, schweigend, nahm dann Huberts Foto in die Hand, strich mit seinen Fingern über dessen lachendes Gesicht. Er schüttelte den Kopf. “Er ist auf der Flucht”, sagte er. “Er flieht vor sich selbst. Aber so schnell kann er nicht laufen, eines Tages holt ihn sein Schatten ein. Beten Sie für ihn.”
Gaby ging zur letzten Therapiestunde bei Dr. Rolveld. Sie ahnte, daß Hubert nicht kommen würde. Aber diesem sogenannten Eheberater wollte sie doch noch sagen, was sie auf dem Herzen hatte, wie sehr er sie gedemütigt hatte, als sie Hubert in seinem Beisein laut und deutlich bitten mußte zurückzukommen. Und warum? Damit er drei Wochen später doch ging? Aber diesmal aus eigener Überlegung? “Ganz genau das ist es”, bestätigte ihr der Arzt. “Er mußte die Entscheidung treffen. Er ganz allein. Sonst hätte er Ihnen für den Rest Ihres Lebens vorgeworfen, daß Sie ihn hinausgeworfen hätten. Er hätte sich wieder hinter Ihnen verstecken können. Einmal in seinem Leben mußte er wählen: seine Freiheit oder seine Verantwortung, seine Familie. Er hat ganz bewußt seine Freiheit gewählt.”
“Aber Sie sagten doch, wir hätten viel Gemeinsames, unsere Interessen, unsere Liebe, unsere Bindung an die Kinder...”
“Das alles zählte für Ihren Mann nicht mehr. Jetzt, wo ihm bewußt war, daß er sein Doppelleben nicht mehr weiterführen konnte, war ihm der Gedanke an ein gemeinsames Leben mit Ihnen unerträglich. Sie
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