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Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Titel: Zuckerpüppchen - Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Hassenmüller
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du denn aus”, hatte Mutti die dreizehnjährige Gaby angeschrien. “Deine Beine, alles voll Blut! Kommst hier herein wie abgestochen und sagst kein Wort.” Pappi hatte für sie geredet. Sie sei nicht in Ordnung. Das sei irgendein Nervenfieber. Und sie solle das Kind in Ruhe lassen. Das hatte Mutti getan.
    Nein, sie wollte ihre Tochter nicht in Ruhe lassen. Natalie mußte wissen, daß sie immer für sie da war. Auch wenn es sie nervte. Irgendwann einmal würde sie sich daran erinnern. Und das sagte sie auch. Ganz ruhig. “Wenn du Probleme hast: Ich bin immer für dich da.” — “Du nervst”, sagte Natalie und schmiß die Tür hinter sich zu.
    Mit unterdrückten Tränen sah Gaby auf den Bildschirm. Das winzigkleine Schimpansenbaby klammerte sich verzweifelt an den Fuß der Mutter, aber die Mutter schob es mit einer brüsken Bewegung fort. Das Tier fiel auf den Rücken, strampelte mühsam mit den Beinen in der Luft und kroch wieder zu der Mutter. Mit abgewandtem Kopf schubste die Mutter es unwillig fort. Der Vorgang wiederholte sich wieder und wieder. Der Kommentar zu diesem wissenschaftlichen Film war nüchtern und sachlich. “Diese Schimpansenmutter hat als Kind keine Zuneigung erfahren. Sie ist von einer sogenannten Flaschenmutter großgezogen worden. Jetzt, da sie selbst Mutter geworden ist, kann sie für ihr Kind auch keine Zuneigung empfinden. Es ist anscheinend so, daß man Verhaltensmuster in früher Jugend lernen muß, um sie selber später weitergeben zu können. Dies gilt in der Tierwelt genauso wie bei den Menschen.”
    Gaby sah in die bläulich lodernden Kaminflammen. Es war Ende Mai, aber für die Jahreszeit noch kühl. Hubert war zu einer Besprechung. In den letzten Wochen häuften die sich wieder... Natalie war bei einer Freundin, Manfred hatte vor einer halben Stunde aus Giethorn angerufen. Die Klassenreise war super, und er amüsierte sich prächtig. Daniel schlief in seinem Bettchen, festgeklammert an seine Lieblingsstoffente.
    Hatte der Sprecher recht? War das wirklich so? Waren all die Kinder, die in ihrer Jugend zuwenig oder keine Liebe erfahren hatten, dazu verdammt, als Väter und Mütter zu scheitern? In früher Jugend, hatte der Kommentator gesagt. Was war in diesem Zusammenhang “frühe Jugend”? Die ersten zwei oder drei Jahre? Waren sechs Jahre lang genug, um liebesfähig zu werden? Sie fühlte sich so innig mit ihren Kindern verbunden, sie würde alles für sie tun und war gleichzeitig doch bereit, sie freizulassen und auch den Kindern Grenzen zu setzen. War das nicht Liebe? Mußte man denn durch eine kaputte Jugend als unfähig abgestempelt werden, den eigenen Kindern eine schöne Kindheit zu verschaffen? “Die wichtigsten Grundlagen, um zufrieden und ausgeglichen aufzuwachsen, sind Wärme, Geborgenheit und das absolute Gefühl der Sicherheit”, hatte der Sprecher hinzugefügt, und die Kamera glitt noch einmal zu dem sterbenden Schimpansenbaby. Was für grausame Tierversuche! Gaby schüttelte sich. Sie dachte an ihre Arbeit beim Kinderschutzbund zurück. In ihrer Ehe mit Robbie hatte sie sich nach einigen Jahren dafür eingesetzt und ehrenamtlich mit einer hauptangestellten Kollegin Familien besucht, die in Schwierigkeiten waren. Oft handelte es sich um vorübergehende Probleme, Arbeitslosigkeit, Krankheit, die dann auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wurden. Manchmal war deutlich, daß dem Kind nur geholfen werden konnte, wenn es nicht mehr bei den Eltern wohnte. Und dann hoffen, daß das Kind bei Pflegeeltern oder in einem guten Heim noch genug an Zuneigung erfahren würde.
    Sie konnte sich an ihre ersten sechs Jahre nur schwach erinnern. Da waren in erster Linie die Bombennächte. Sie hatte mit Mutti und Achim im Luftschutzkeller gesessen. Achim hatte ihr Geschichten vorgelesen, und sie hatte sich an Mutti geschmiegt. Mutti roch immer so gut. Wenn Bomben einschlugen, hatte sie ihren Kopf in Muttis Schoß vergraben, und Mutti hatte sie gestreichelt. “Ist ja gut, mein Mäuschen.” Gaby hatte Angst gehabt, aber alle um sie herum hatten auch Angst. Und wenn die Sirenen die Entwarnung gaben, hatte man tief durchgeatmet und war wieder nach draußen ins Helle gegangen. An Vati hatte sie wenig Erinnerungen. “Mein Hummelchen”, hatte er sie genannt und sie in die Luft geworfen. Das war aufregend und ein ganz klein bißchen gefährlich gewesen. Aber er hatte sie immer wieder aufgefangen und sie an sich gedrückt. Sein Bart hatte gekratzt. Er roch nach Tabak und Schweiß, und

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