Zusammen Allein
1
Mein Vater ging als Erster. Nach langen Streitereien. Mit lange meine ich zehn, zwölf Jahre. Seit ich denken kann, nichts als Streit zwischen Mamusch und Tata.
Tata wollte in den Westen, da wollten alle hin. Fast alle. Mamusch wollte nicht.
»Warum nicht?«, fragte mein Vater. »Alle sind sie drüben, und hier wird das Leben unerträglich.«
»Das Tragische an den Unzufriedenen ist ihre Unzufriedenheit! Das hat ein Philosoph herausgefunden. Ich weiß nicht mehr, wer es war«, erklärte meine Mutter.
Ich fand den Satz nicht besonders philosophisch.
Tata wurde ernst. Sein Profil gleicht dem eines Adlers. Seine Nase, spitz und gekrümmt, fordert Respekt. Wenn auch noch die Augen etwas Raubtierhaftes annahmen, sah er zum Fürchten aus.
»Joi, bilde ich mir das Unglück etwa ein?«, posaunte er los. »Man kann es greifen, man kann es sehen.« Demonstrativ fuhrwerkte er mit seinen langen Armen durch die Luft, stieß dabei auf lauter Unglück, denn seine Mundwinkel zuckten. »Und es wird immer größer.«
»Aber du bist Lehrer, du hast Verantwortung.« Mamusch holte tief Luft. »Und sie lassen dich sowieso nicht raus. Wir haben immer noch keine Angehörigen ersten Grades drüben.«
Mit drüben war der Westen gemeint. Mit WestenWestdeutschland. Mit Westdeutschland das Schlaraffenland. Das Land, das wir aus Erzählungen und aus der
Bunten
kannten. In der
Bunten
sahen nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge glücklich aus. Autos, Margarine, Unterwäsche. Unglaublich. Schlug man die
Bunte
auf, bekam man den Mund nicht mehr zu.
Warum sich meine Mutter so stur stellte, begriff niemand.
»Bleibst du wegen der Hure hier?«, schrie mein Vater. Er wusste nicht, dass ich im Türrahmen stand. »Wenn wir uns nicht beeilen, sind drüben die Arbeitsplätze weg.«
Meine Mutter kämpfte gegen aufsteigende, nein, gegen flutende Tränen an und schluckte sichtbar.
»Nenn Puscha nicht immer Hure.«
»Du hast sie selbst so genannt.«
»Das ist lange her. Sie hat für alles bezahlt.« Die Schleusen öffneten sich, meine Mutter fing an zu weinen. Tata ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Wenn sie nicht mitkommen will, dann ist das ihre Sache. Du hast gelernt, ohne sie zu leben.«
»Es ist nicht wegen ihr, das weißt du.«
»No, worum geht es dann?«
»Hier kenn ich mich aus. Wer weiß, wie es drüben wirklich ist.«
»Wir fahren«, unterbrach sie Tata. »Wir haben lange genug gewartet. Hier schließen die deutschen Schulen, die Kirchen sind leer.«
»Je kleiner die Gemeinde, desto wichtiger der Einzelne. Die Sachsen sind seit achthundert Jahren im Land. So schnell geben wir nicht auf.« Wie ein Profiboxer wich meine Mutter seinen Schlägen aus, verteidigte sichmit kleinen Ablenkungsmanövern. Aber ich spürte, dass dieser Kampf sie überforderte. Sie wirkte müde und resigniert. Leise schnäuzte sie ihren Kummer ins Taschentuch, und ich ging zu Bett.
Im Sommer 1986 bekam Tata die lang ersehnte Besuchserlaubnis. Um seinen Cousin Erwin wiederzusehen. Sechs Monate hatte er warten müssen, und gekostet hatte ihn das zahlreiche Wartestunden auf dem Amt, einen fast neuen Füllfederhalter, drei Päckchen Westkaffee und sechs Paar Seidenstrumpfhosen. Vom Bargeld nicht zu reden.
Erwin lebte seit siebzehn Jahren im Westen. Auf der Drabender Höhe, bei Köln. Ihm und seiner Familie ging es sehr gut. Sie hatten alles. Butter und Wurst und Autos. Mehrzahl. Und eine große Wohnung mit Balkon. Ein Haus noch nicht, das wurde aber gerade gebaut.
»Die Sachsen kratzen sich drüben alles wieder zusammen, was sie durch die Kommunisten verloren haben«, sagte Tata beim Mittagessen. »Zu dem vielen Neuen brauchen sie auch das Alte. Aus Nürnberg die gute Bratwurst von einem siebenbürgischen Metzger, an Hochzeiten Baumstriezel von einem Baumstriezelbäcker. No, und Erwins Mutter ist im siebenbürgischen Altersheim. Stell dir vor, sie hat sich einen Spaten besorgt und damit den gepflegten Rasen umgegraben. Jetzt wachsen vor der Heimterrasse Zwiebeln, Knoblauch und Paradeiserstauden. Im Westen ist das Paradies«, wiederholte Tata mit einer Überzeugung, die aus Beton gegossen schien.
Die Suppe war kalt geworden, da er immer weitere Beispiele dafür fand, warum eine Übersiedlung essenziell war.
»Was heißt essenziell?«, wollte ich wissen.
»Liebe Agnes, mit fünfzehn Jahren weiß man das, oder man weiß es nie.«
Mein Vater kam nicht zurück.
Essenziell
, dieses harte Vaterwort, nahm ich nie wieder in den
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