Zweifel
er noch eine Wahl hatte. Was Sam aber nicht wusste, war, ob Bo bereits Verdacht geschöpft hatte und wie er reagieren würde, falls er die Wahrheit erfuhr.
***
Sam verbrachte eine lange ruhelose Nacht, in der er sich mit dunklen Vorahnungen herumschlug. In seinem Kopf spielten sich immer wieder Szenen ab, in denen Bo Dean zu einem Geständnis überredete. Vor Sams geistigem Auge formte sich das Bild von Bos Gesicht mit einem Ausdruck voller Schmerz und Wut. Der Gedanke allein sorgte dafür, dass sich Sams Magen zusammenkrampfte. Das Schlimmste an dem Ganzen war, dass er nicht einmal wusste, was Bo mehr verletzen würde: die Tatsache, dass Sam mit Dean geschlafen hatte, oder dass Dean darüber Gewissheit erlangen könnte, dass Bo tatsächlich schwul war.
Kurz vor dem Morgengrauen gab Sam seine Schlafversuche auf. Er kickte die Decke beiseite, krabbelte aus dem Bett und schleppte sich ins Bad. Nachdem er sich kurz frisch gemacht und die Zähne geputzt hatte, zog er tatsächlich in Betracht, einfach den ganzen Tag in seiner Unterwäsche herumzugammeln. Aber nur einen Augenblick lang – dann verwarf er die Idee wieder. Sie war albern und unreif.
Zurück im Schlafzimmer zog er eine ausgewaschene Jeans an und streifte sich ein Radiohead -Shirt mit langen Ärmeln über. Seine Mutter hätte die Stirn gerunzelt und angeordnet, dass er sich umzog, dachte er mit einem Lächeln auf dem Gesicht, als er in die Küche ging.
Während der Kaffee brühte, lehnte er sich gegen die Anrichte, schwindelig vor lauter Müdigkeit. Er lachte, aber es war ein bitteres Lachen, rau und humorlos.
»Ein fröhliches, beschissenes Thanksgiving!«, blaffte er dem schmutzigen Geschirr im Spülbecken entgegen.
Einige Minuten später ließ er sich in den Stuhl neben dem Fenster sinken, in der Hand eine große Tasse starken Kaffee. Das schwache Morgenlicht verhieß einen grauen und trübsinnigen Himmel, der überaus gut zu Sams Stimmung passte.
Wie auch immer diese Sache ausging, Sam wusste, dass er niemanden dafür verantwortlich machen konnte. Niemanden außer sich selbst. Er akzeptierte das auch. Aber das machte es nicht leichter. Er wurde mit der Möglichkeit konfrontiert, dass er seine letzte Chance bei Bo verspielt hatte.
Sam wäre vor Schreck beinahe vom Stuhl gefallen, als plötzlich jemand gegen seine Tür hämmerte, so laut, dass diese im Türrahmen schepperte. Er stieß einen leisen Fluch aus und sah stirnrunzelnd auf die Küchenuhr. Wer, verdammt noch mal, wagte es, an Thanksgiving um sechs Uhr morgens hier aufzutauchen?
Er stellte den Kaffee auf dem Fenstersims ab und wetzte zur Tür. Als er durch den Spion sah, erschrak Sam ein weiteres Mal. Bo stand draußen im Gang, die Lippen zusammengepresst und seine dunklen Augen sprühten Funken.
Sam fühlte seine Knie zittern. »Oh Scheiße«, brachte er nur heraus, als Bo seine Faust hob und erneut gegen die Tür hämmerte.
»Ich weiß, dass du da bist, Sam!«, schrie Bo. »Mach sofort die verdammte Tür auf!«
Einen Augenblick lang war Sam sich nicht sicher, ob das eine so gute Idee war. Es war überdeutlich, dass Bo vor Wut kochte und Sam wollte nicht unbedingt der Blitzableiter für diesen Zorn sein. Er wusste aus Erfahrung, dass dieser Mann verflucht hart zuschlagen konnte.
‚Wenn er dir eine reinhauen möchte, dann hat er ein verdammtes Recht dazu, nach dem, was du ihm angetan hast‘. Sam fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen, zog den Türriegel zurück und öffnete die Tür.
»Bo, ich...«
»Sei still!« Bo stürmte an Sam vorbei in die Wohnung und fuhr wieder herum, um ihn wütend anzufunkeln. In seinen Augen lag ein gefährliches Feuer. »Hast du?«
Sam wusste, dass es nichts bringen würde, das Unvermeidliche hinauszuzögern, indem er so tat, als wüsste er nicht, wovon Bo sprach.
»Ja«, sagte er leise, als er die Tür schloss. »Es war ein furchtbarer Fehler. Und es tut mir leid.«
»Es tut dir leid?« Bo ließ ein harsches Lachen erklingen. »Es tut dir leid. Und du hast noch behauptet, es ginge nicht um Sex, nein, überhaupt nicht, es ginge dir nur darum, dass du dich nicht länger verstecken willst. Und kaum habe ich unsere Beziehung beendet, vögelst du den nächstbesten Typen, der dich haben will. Und es tut dir leid .«
»Ja, das tut es.« Sam zwang sich dazu, ruhig zu bleiben und auch die Stimme nicht zu heben. »Du hast jedes Recht, wütend auf mich zu sein.«
»Habe ich das?« Kopfschüttelnd begann Bo, auf- und abzugehen wie ein gefangener
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