Zwischen Ehre und Verlangen
ob ihre Zofe, bevor sie zur Reise aufgebrochen war, ihr das Visitenkartenetui in die Tasche gesteckt hatte. “Ist mein Retikül gefunden worden?” wollte sie wissen.
“Nein, Madam”, antwortete Barbara und schüttelte den Kopf. “Natürlich wurde die Umgebung der verunglückten Kutsche nach Ihren persönlichen Dingen abgesucht, aber leider hat man keinen Hinweis auf Ihre Identität gefunden, auch nicht in der Couverttasche Ihres Gatten, sodass Ihre Angehörigen bis jetzt nicht benachrichtigt werden konnten. Ihr Gepäck hat Bill heraufgebracht und dort vor die Kommode gestellt.”
Amanda fand es sehr befremdlich, dass der Mitreisende keine Visitenkarten bei sich hatte. Da sie ihren Ehering trug, war es nicht verwunderlich, dass man sie und den Fremden für verheiratet hielt. Selbst die beiden Portemanteaux, die wie vom selben Hersteller gefertigt aussahen, erweckten den Eindruck, als seien sie gleichzeitig für ein Ehepaar gekauft worden. Andererseits war Amanda erleichtert darüber, dass ihre Identität nicht bekannt war, da so keiner ihrer Verwandten und Bekannten erfahren konnte, dass man sie nach einem Kutschenunfall ohnmächtig in den Armen eines Mannes gefunden hatte.
“Sehr liebenswürdig, Mrs. Clay”, erwiderte sie höflich. “Würde es Ihnen etwas ausmachen, zunächst für mich und dann für meinen Gatten heißes Wasser heraufbringen zu lassen? Und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn jemand ihm beim Ankleiden helfen und ihn rasieren könnte. Sobald ich mich präsentabel gemacht habe, werde ich zum Frühstück herunterkommen.”
“Ihr Kleid, Madam, ist bereits abgebürstet worden und liegt hinter dem Wandschirm. Verzeihen Sie, aber mit wem habe ich die Ehre?”
“Mrs. Brown.”
“Smith”, sagte Jared einen Moment zu spät.
“Mr. Augustus und Mrs. Amanda Brownsmith aus London”, fuhr sie geistesgegenwärtig fort. “Wir sind auf dem Weg zu Freunden in Holt.”
Die Wirtin knickste und verließ den Raum.
“Ich bewundere Ihre schnelle Reaktionsfähigkeit”, äußerte Jared beeindruckt. “Aber mussten Sie mich unbedingt ‘Augustus’ taufen? Falls Sie sich für den kleinen Kuss rächen wollten, ist diese Strafe viel zu hart.”
Derart jäh an die Intimität erinnert, spürte Amanda sich erröten und entgegnete ungehalten: “Sie sollten sich schämen, Sir! So etwas gehört sich nicht!”
“Sie müssen zugeben, Madam, dass ich unter den gegebenen Umständen sehr viel Zurückhaltung bewiesen habe”, nahm er sich in Schutz. “Herein!”, fügte er hinzu, weil jemand Einlass begehrte.
Mrs. Clay betrat die Kammer, ging zum Waschtisch und schüttete das mitgebrachte heiße Wasser aus dem kleinen Holzeimer in die Porzellankaraffe. Dann hängte sie die Handtücher über den Paravent und zog sich diskret zurück.
Misstrauisch beäugte Amanda den alten Wandschirm, in dem ein breiter Riss klaffte. Unsicher schaute sie zu ihrem Leidensgefährten und sah, dass er sich wieder auf dem Bett ausgestreckt und die Augen geschlossen hatte. Mit vor Schmerz verzerrter Miene bewegte er den rechten Arm und versuchte, ihn in eine für ihn bequemere Lage zu bringen. Er tat ihr leid, doch es würde sich trotzdem nicht vermeiden lassen, ihn zu bitten, unverzüglich abzureisen, um jeder Gefahr eines Skandals aus dem Weg zu gehen.
Rasch begab sie sich hinter den Paravent, legte das vermutlich der Wirtin gehörende Nachthemd ab und reinigte sich in aller Eile. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, kleidete sie sich an und setzte sich an den Frisiertisch. Nach einem erschütterten Blick in den Kippspiegel nahm sie den Kamm der bereitliegenden Toilettengarnitur zur Hand und begann, das zerzauste blonde Haar zu ordnen. Innerlich seufzend betrachtete sie sich und dachte daran, dass ihre Bewunderer ihr stets gesagt hatten, keine andere Frau habe so wunderschöne braune Augen wie sie. Jetzt war der Ausdruck müde, und auch ihr schmales, ovales Gesicht wirkte abgespannt. Im Allgemeinen war sie nicht eitel, doch nun ärgerte es sie, dass sie stark gerötete Schrammen auf der linken Wange hatte und ihr linkes Auge geschwollen und blau verfärbt war.
Beklommen beendete sie die Morgentoilette, stand auf und ging um den Wandschirm. Sofort bemerkte sie, dass der Mann sie anerkennend anschaute, und stellte sich auf weitere unpassende Äußerungen ein.
“Je eher wir dieses Gasthaus verlassen, desto besser”, sagte er ruhig. “Ich hoffe, man kann mir hier eine Kutsche vermieten. Haben Sie es noch weit bis zu Ihrem
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