Zwischen Macht und Verlangen
„Ich könnte es nicht wieder durchmachen, Alan, zu warten, nur darauf zu warten, dass es wieder passiert, dass sich alles wiederholt …“ Aufschluchzend schlug sie die Hände vor das Gesicht..„O Gott, bitte,“ ich halte es nicht aus. Ich wollte dich nicht so sehr lieben, wie ich es tue. Ich wollte nicht, dass du mir so viel bedeutest. Ich kann es nicht wieder geschehen lassen. All diese Menschen um einen herum, all diese Gesichter, der Krach, die Aufregung. Ich habe gesehen, wie jemand, den ich liebte, vor meinen Augen starb. Ich kann es nicht wieder durchleben. Ich kann es nicht!“
Alan hielt sie eng an sich gedrückt, wollte sie beruhigen, wollte sie trösten. Doch was sollte er sagen, welche Worte gebrauchen, um diese tief sitzende Angst und diesen schrecklichen Kummer zu verscheuchen? Es war ihre Liebe zu ihm, die all dieses Vergangene wieder herausbrachte. Und es gab keinen Weg, Shelby verständlich zu machen, dass es Wiederholungen im Leben nur selten gab.
„Shelby, bitte … Ich werde nicht …“
„Nein!“ unterbrach sie ihn und befreite sich aus seiner Umarmung. „Sag es nicht! Bitte! Ich kann es nicht ertragen, Alan. Du musst bleiben, was du bist, und für mich gilt das Gleiche. Wenn wir uns änderten, wären wir nicht die Menschen, die einander lieben könnten.“
„Ich bitte dich ja nicht darum, dich zu ändern“, sagte er ruhig, obwohl er wieder anfing, die Geduld zu verlieren. „Ich bitte dich nur, mir zu vertrauen und an mich zu glauben.“
„Du verlangst zu viel von mir. Bitte, bitte lass mich allein!“ Bevor er noch etwas sagen konnte, verschwand Shelby im Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
12. KAPITEL
Maine war im Juni wunderschön, grün, wild und einsam. Shelby fuhr die Küstenstraße entlang und zwang sich, an nichts zu denken. Durch das weit geöffnete Wagenfenster hörte sie, wie die Wellen sich an den Felsen brachen. Leidenschaft, Wut und Trauer drückte das Geräusch aus. Es passte zu Shelbys Gemütsverfassung.
Sie erkannte den Leuchtturm auf der schmalen Landzunge, die sich herausfordernd ins Meer erstreckte. Keine Menschenseele war zu sehen. Hier fand Grant seinen Frieden und die Ruhe für sein Herz. Würde es auch ihr ge lingen, in dieser Einsamkeit mit sich ins Reine zu kommen?
Der Strand war leer, als Shelby den Wagen verließ. Ein leichter Wind wehte ihr kühl und würzig um die Nase. Der Anblick des grauen Leuchtturms beeindruckte sie stets aufs Neue. Hier und dort mochte er ein wenig verfallen und vom Wetter angefressen sein, aber er strahlte Macht aus, zeitlose, lebensrettende Kraft. Ein sicherer Ort, um sich vor Stürmen aller Art zu verkriechen.
Shelby nahm ihre Tasche aus dem Kofferraum und ging auf die Eingangstür zu. Wie sie Grant kannte, hatte er abgeschlossen. Er gab niemandem Gelegenheit, sich unangemeldet zu nähern. Sie schlug, so kräftig sie konnte, mit der Faust gegen das Holz und schloss mit sich selbst eine Wette ab, wie lange Grant das Klopfen unbeachtet lassen würde. Gehört hatte er es natürlich sofort – Grant entging nichts –, aber trotzdem nahm er sich reichlich Zeit. Es fiel ihm immer schwer, jemandem Eintritt in seine Eremitenklause zu gewähren.
Shelby machte sich wieder bemerkbar und beobachtete dabei, wie die Sonne am Himmel höher stieg. Nach vollen fünf Minuten wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet.
Er wird unserem Vater immer ähnlicher, dachte Shelby überrascht. Das offene Gesicht mit den intelligenten Augen wies ein paar neue Falten auf, die Haare waren ein wenig zu lang. Schlaftrunken blinzelte er ins Morgenlicht.
„Was in aller Welt suchst denn du hier?“ fragte er nicht eben freundlich und rieb sein unrasiertes Kinn.
„Ein typischer Guten-Morgen-Gruß von Grant Campbell!“ Shelby stellte sich auf die Zehen und küsste den Bruder trotzdem.
„Wie spät ist es eigentlich?“
„Noch früh.“
Mit einem unterdrückten Fluch trat Grant zur Seite, um Shelby einzulassen. Das Wachwerden fiel ihm sichtlich schwer. Dann schloss er die Tür wieder, drehte den Schlüs sel um und folgte der Schwester die steile, knarrende Holztreppe hinauf zu seinen Wohnräumen.
Oben angekommen, nahm Grant Shelby bei den Schultern und musterte sie mit raschem, durchdringendem Blick.
„Was ist verkehrt gelaufen?“ fragte er knapp.
„Wie meinst du das?“ Shelby warf ihre Tasche auf einen Sessel, der dringend hätte aufgepolstert werden müssen. „Warum sollte etwas verkehrt sein? Kann ich dich denn nicht
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