Zwischen Macht und Verlangen
der Straßenecke kauert und Blumen zum Verkauf anbietet. Gelegentlich unterstrich sie diesen Eindruck noch durch geschicktes Make-up und leicht antik wirkende Kleidung, für die sie eine besondere Vorliebe hatte.
In Washington aufgewachsen, vor dem Hintergrund hoher Politik, lebte sie mit größter Selbstverständlichkeit in dieser Umgebung. Wochenlang hatte die Familie den Vater nicht zu Gesicht bekommen, wenn Wahlfeldzüge ihn in Atem hielten, finanzielle Transaktionen organisiert und durchgeführt wurden und Parteiinteressen oberstes Gebot waren. All das bildete einen nicht wegzudenkenden Teil ihrer Vergangenheit.
Sie erinnerte sich gut an sorgsam geplante Kindergesellschaften, die wie Pressekonferenzen vorbereitet werden mussten. Die Kinder von Senator Campbell gehörten zu seinem Image, und alle Bemühungen in dieser Richtung hatten ein gemeinsames Ziel: den Sessel hinter dem großen Schreibtisch im Weißen Haus.
Dabei war sich Shelby absolut im Klaren darüber, dass ihr Vater es nicht nötig hatte, sich und anderen etwas vorzumachen. Er war ein ausgezeichneter, fähiger Mann, fair, großzügig und vortrefflich geeignet für dieses hohe Amt. Aber sein Sinn für Humor und sein politischer Weitblick hatten ihn nicht vor der Revolverkugel eines Wahnsinnigen schützen können.
Seitdem waren fünfzehn Jahre vergangen.
Shelby war damals zu der Erkenntnis gelangt, dass die Politik ihren Vater getötet hatte. Jeder Mensch muss sterben – so viel hatte sie schon als elfjähriges Kind verstanden. Aber der Zeitpunkt kam zu früh für Robert Campbell. Wenn der Tod sogar einen Mann wie ihn, den sie für unverwundbar gehalten hatte, vorzeitig treffen konnte, dann war niemand in diesem Geschäft davor sicher. Jeder befand sich täglich in Lebensgefahr.
Shelby hatte sich verspätet, aber das war bei ihr nichts Außergewöhnliches und hätte deshalb niemanden verwundert. Nicht aus Nachlässigkeit war sie so oft unpünktlich oder etwa deshalb, weil sie Aufmerksamkeit erregen wollte, keineswegs! Die Dinge, die sie sich vorgenommen hatte, dauerten einfach immer ein bisschen länger als vorausgesehen. An diesem Abend jedoch waren so viele Menschen in dem großen weißen Landhaus versammelt, dass Shelbys Eintreffen nicht einmal bemerkt wurde.
Shelby kannte die meisten der elegant gekleideten Gäste. Sie nickte grüßend nach allen Seiten und fand mit sicherem Instinkt den Weg zum kalten Büffet. Essen war für Shelby eine ernst zu nehmende Angelegenheit. Als sie die leckeren, fingerdicken Kanapees erspähte, erkannte sie mit Genugtuung, dass es sich tatsächlich für sie gelohnt hatte, zu dieser Party zu kommen.
„Grüß dich, Shelby! Es ist mir überhaupt nicht aufgefallen, dass du gekommen bist. Aber ich freue mich sehr, dass du es einrichten konntest.“ Carol Write, in pastellfarbenem Chanelkostüm elegant wie immer, war durch die Reihen der Gäste zu Shelby geschlüpft.
„Ich habe es leider nicht eher geschafft.“ Shelby küsste die Freundin ihrer Mutter auf die Wange, was mit dem vollen Teller in der Hand gar nicht so einfach war. „Ihr Haus ist wunderschön, Mrs. Write.“
„Danke, Shelby. Ich zeige dir gern später die anderen Räume, wenn ich etwas mehr Zeit habe.“ Mit dem prüfenden Blick einer vollendeten Gastgeberin, der das Wohl ihrer Gäste am Herzen liegt, sah sich Carol Write um. Erst nachdem sie befriedigt festgestellt hatte, dass alles klappte, sprach sie weiter. „Wie läuft’s in deinem Shop?“
„Danke, vorzüglich! Ich hoffe, der Herr Abgeordnete ist wohlauf.“
„O ja. Er wird dich begrüßen wollen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr er sich über den großen Aschenbecher gefreut hat, den du ihm für sein Büro angefertigt hast. Aber du solltest dich unter meine Gäste mischen und nicht allein hier stehen.“
Carol hatte Shelbys Arm ergriffen und führte sie vom Büffet weg. Shelby bedauerte das, sie hätte gern ihren Teller noch einmal aufgefüllt.
„Wirklich, niemand kann besser Konversation machen als du. Zu viel einseitige Unterhaltung ist für eine Party tödlich. Die meisten Leute kennst du, aber … Oh, da ist ja Deborah! Ich lasse euch einen Augenblick allein. In ein paar Minuten komme ich zurück und entführe dich wieder.“
Erleichtert drehte sich Shelby um und ging erneut zum Büffet. „Hallo, Mama!“
„Ich fürchtete schon, du hättest gekniffen.“ Deborah Campbell musterte die Tochter kritisch. Der bunte Rock, die weiße Trachtenbluse und das Bolerojäckchen
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