Zwischen Sehnsucht und Verlangen
tanzen begannen, konnte sie sich dazu entschließen, ihre Lektüre zu beenden.
Nun kannte sie jeden Aspekt der Schlacht von Antietam, wusste alle Einzelheiten über General Lees Marsch und seinen Rückzug über den Fluss und hatte die genaue Anzahl der Toten und Verwundeten im Kopf, ebenso wie das Bild des blutigen Kampfes, der über die Hügel und durch die Kornfelder Marylands getobt hatte.
Das meiste davon hatte sie natürlich schon vorher gewusst, vor allem deshalb, weil sie die Vorstellung, dass ausgerechnet hier, in dieser stillen, abgeschiedenen Gegend eine der größten Schlachten des amerikanischen Bürgerkriegs geschlagen worden war, schon immer fasziniert hatte. In gewisser Weise war es sogar so, dass dieses Wissen ihre Wahl bezüglich des Ortes, an dem sie sich niederlassen wollte, beeinflusst hatte.
Diesmal jedoch hatte sie nach mehr ins Detail gehenden Informationen Ausschau gehalten – Informationen, die die Barlows betrafen. Sie wollte alles wissen, sowohl die Fakten als auch das, was an Spekulationen über sie angestellt wurde. Bereits hundert Jahre vor jenem schrecklichen Tag im September des Jahres 1862 war die Familie in dem Haus auf dem Hügel ansässig geworden. Als wohlhabende Großgrundbesitzer und Geschäftsleute hatten sie gelebt wie die Fürsten. Ihre rauschenden Bälle und festlichen Dinner hatten Gäste in großer Zahl aus Washington und aus Virginia angelockt.
Sie wusste, wie sie sich gekleidet hatten, sah die Gehröcke der Herren und die mit Spitzen besetzten Reifröcke der Damen genau vor sich, die Hüte aus Seide und die mit Satin bezogenen Pumps. Sie wusste, wie sie gelebt hatten, mit Dienstboten, die ihnen den Wein aus Kristallkaraffen in handgeschliffene, funkelnde Pokale einschenkten und die ihr Heim schmückten und die Möbel mit Bienenwachs wienerten, bis man sich darin spiegeln konnte.
Selbst jetzt, hier auf dieser verschneiten, kurvigen Straße, die sie gerade entlangfuhr, hatte sie die Farben und Stoffe vor Augen, die Möbel und all die schönen Kleinigkeiten, mit denen sich die Barlows umgeben hatten.
Rafe MacKade würde für sein Geld den adäquaten Gegenwert bekommen.
Sie hoffte nur, dass seine Taschen auch tief genug waren.
Auf der schmalen, holprigen Straße, die zu dem Haus hinaufführte, lag hoher, jungfräulich weißer Schnee. Unmöglich. Diese Straße konnte sie keinesfalls hinauffahren. Sie würde in den Schneeverwehungen stecken bleiben.
Leicht verärgert darüber, dass Rafe diesem Umstand keine Beachtung geschenkt hatte, fuhr sie bis zur nächsten Biegung, parkte den Wagen und stieg aus. Nur mit ihrer Aktentasche bewaffnet, trat sie den mühseligen Marsch nach oben an.
Wie gut, dass du deine Winterstiefel anhast, sagte sie sich, als sie fast bis zu den Waden im Schnee versank. Zuerst hatte sie ein Kostüm und Schuhe mit hohen Absätzen anziehen wollen, aber im letzten Moment war ihr eingefallen, dass es weiß Gott nicht darum ging, bei Rafe MacKade Eindruck zu schinden.
Nachdem sie die Anhöhe erklommen hatte, sah sie sich um. Das Haus hatte etwas Faszinierendes an sich, und es zeichnete sich trotz der langjährigen Vernachlässigung stolz und unverwüstlich gegen das kalte Blau des Himmels ab.
Sie trat, vorsichtig durch die Schneeverwehungen stapfend, näher und kämpfte sich durch das Gesträuch. Brombeerranken streckten ihre dornigen Finger nach ihren Hosenbeinen aus und verhakten sich. Und doch war hier früher einmal weicher grüner Rasen mit in allen Farben blühenden Blumenrabatten gewesen.
Wenn Rafe auch nur ein kleines bisschen Fantasie hatte, könnte es eines Tages wieder so sein.
Während sie sich ermahnte, dass die Landschaftsgestaltung nicht ihr Problem war, bahnte sie sich ihren Weg zur vorderen Eingangstür.
Er ist zu spät dran, dachte sie mit einem Anflug von Missmut.
Regan schaute sich um, stampfte ein paarmal, um wärmer zu werden, mit den Füßen auf und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Der Mann konnte doch kaum erwarten, dass sie in dieser Eiseskälte hier draußen herumstand und auf ihn wartete. Zehn Minuten und keine Sekunde länger, sagte sie sich. Sie würde ihm eine Nachricht hinterlassen, in der sie ihn darüber aufklärte, dass sie getroffenen Verabredungen viel Wert beimaß, und wieder wegfahren.
Aber es konnte nicht schaden, einen kurzen Blick ins Innere des Hauses zu werfen.
Vorsichtig stieg sie die schadhaften Stufen empor. Hier, an diesem Seitenbogen sollten sich unbedingt Glyzinien oder Wicken emporranken,
Weitere Kostenlose Bücher