Zwischen zwei Nächten
hört man so einen dumpfen Laut bestimmt nicht. Selbst ein Schrei würde von diesem Krach geschluckt werden. Er ist kein großes Risiko eingegangen. Aber würde man es ihm je nachweisen können? Nur wenn ihn jemand gesehen hätte. Aber es hat ihn anscheinend niemand gesehen. Und die Polizei? Wahrscheinlich haben sie ihn nicht einmal in Verdacht gehabt.
Ann-Marie besitzt kein großes Vertrauen in die Fähigkeiten der Polizei.
Die sind heilfroh, diesen Fall so rasch abgeschlossen zu haben. Ein sauberer Selbstmord. Motive hat es, laut Aussage des Ehemannes, mehr als genug gegeben. Selbst mit einer Anzeige hätte ich keine Chance. Er würde bestimmt mangels an Beweisen freigesprochen werden. Und ich habe keine Beweise, sondern nur ein Gefühl, und Gefühle zählen nicht vor Gericht. Ich werde mich wohl oder übel damit abfinden müssen, daß Alfred, dank des nicht gerade unbeträchtlichen Erbes, sein Leben in vollen Zügen genießen wird. Ob diese Margot Bescheid weiß? Sicherlich ahnt sie etwas. Also hat sie ihn in der Hand, auf immer und ewig. Immerhin eine Strafe, aber eine viel zu geringe.
Ann-Marie wird grausam bewußt, daß sie daran nichts ändern kann. Ihre Kopfschmerzen sind wieder stärker geworden.
Alkohol ist doch kein Allheilmittel.
Das Zittern hat nachgelassen, aber ihre Beine fühlen sich jetzt an wie Blei. Sie fürchtet, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.
Anna lehnte sich zurück und lächelte über die Anstrengungen ihrer Freundin, wach zu bleiben. Ann-Marie erinnerte sie an ein Kind, das zu Silvester um jeden Preis bis Mitternacht aufbleiben will, um nur ja nicht den geheimnisvollen Schluck Sekt und das Läuten der dicken Pummerin zu versäumen.
Um nicht einzuschlafen, sprach Ann-Marie unentwegt. Ihre Stimme wurde immer leiser und schleppender, ihre Sätze unzusammenhängender und unverständlicher. Aber sie fuhr fort zu erzählen wie die Prinzessin in Tausendundeiner Nacht. Sie sprach von ihrer Wohnung, von Jeff, vom Straßenfest im letzten Jahr und von einer Liebesaffäre, die sie nicht gerade glorreich beendet hatte.
„Wenn du älter wirst, lebst du dann nur mehr von deinen Erinnerungen, oder weigerst du dich einfach, alt zu werden? Anna, auch ich habe Angst vor dem Alter, ich bin nicht mehr so in Form wie früher“, sagte sie plötzlich laut und deutlich.
„Ich bin mein Leben lang von einer Umarmung in die andere geflüchtet, ohne daß mir Umarmungen tatsächlich viel bedeutet haben. Aber ich habe immer das Gefühl gehabt, daß ich mir nichts entgehen lassen dürfte. Ich habe gedacht, wenn ich alles ausleben könnte, was mir Freude macht, würde ich das Alter leichter ertragen und nicht so sehr bedauern, daß die Zeit um ist. Ich fürchte, das war ein großer Irrtum. Es funktioniert genau umgekehrt. Wenn man so schnell und intensiv gelebt hat wie ich, wird es wahrscheinlich noch viel schwieriger sein, sich damit abzufinden, daß nichts mehr geht.“
Anna, die gerade noch über die letzte, etwas verworrene Liebesgeschichte ihrer Freundin gelacht hatte, wurde ernst und strich ihr tröstend übers Haar. Wie geistesabwesend berührte sie Ann-Maries Mund, tastete leise über die weiche Haut ihrer Wangen, zart, kaum spürbar und streichelte ihren faltigen Hals.
Ann-Marie legte ihre Hände auf Annas Schultern und klammerte sich an sie, hielt sie fest.
Unwillkürlich mußte sie an ihre ersten Liebeserlebnisse denken. Auch die jungen Männer damals waren scheu und unbeholfen gewesen, hatten aber rasch dazugelernt.
Annas Lippen streiften ihre Stirn, spielten mit ihrem Haar und suchten ihren Mund. Ann-Marie wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, ihre Freundin könnte plötzlich aus diesem tranceähnlichen Zustand erwachen und ihre Zärtlichkeiten abrupt beenden. In Gedanken befahl sie sich, endlich abzuschalten und zu genießen.
Ich kann es mir nicht erlauben, mich ausgerechnet jetzt gehenzulassen. Kein Mensch weiß, daß ich hier bin. Wie habe ich mich nur freiwillig in seine Hände begeben können?
Ann-Marie verflucht ihren Leichtsinn. Angstschweiß bedeckt ihre Stirn, und ihre Handflächen werden feucht. Noch nie in ihrem Leben hat sie sich einem Mann so ausgeliefert gefühlt.
Ich muß aufpassen, darf ihn nicht zu sehr provozieren, er spürt ohnehin schon den ganzen Abend lang mein Mißtrauen. Wenn ich so weitermache, wird er bestimmt nicht davor zurückschrecken, mit mir genauso zu verfahren wie mit Anna.
Im Geiste sieht sie schon die Schlagzeile der kleinformatigen Zeitung von
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