Zwischenspiel: Roman (German Edition)
sie umgab, tatsächlich sehen wie die Abgase eines Autos, und in jedem ihrer Schritte vibrierte die Kraft für zwei. Ich war froh, als ich endlich die S-Bahn-Brücke an der Wollankstraße sah, die früher zur Mauer zwischen Ost- und Westberlin gehörte, da, wo der Wedding endete und Pankow begann. Von nun an brauchte ich Stefan. Die Straße, die auf der Traueranzeige als Friedhofsadresse angegeben war, kannte ich nicht. Fanny hatte gesagt, der Friedhof liege kurz hinter der Stadtgrenze. Stefan schwieg, ich fuhr geradeaus. Auch am Rathaus, wo ich links abbiegen musste, wenn ich Olga früher, als wir alle noch in Ostberlin wohnten, besucht hatte, sagte Stefan nichts. Ich fuhr weiter geradeaus, obwohl ich das für einen Fehler hielt. Warum sollte Olga so weit entfernt von ihrer Wohnung begraben werden und nicht neben Hermann, ihrem treulosen Ehemann, es sei denn, sie hätte gerade das gewollt: im Tod nachholen, was sie im Leben nicht geschafft hatte, was ich aber nicht glaubte. Trotzdem fuhr ich weiter bis zur Kirche, wo Stefan befahl, rechts abzubiegen. Das war aber unmöglich, weil die Straße wegen Bauarbeiten gesperrt war. Um links abzubiegen, war es zu spät, also weiter geradeaus. Stefan protestierte. Ich solle wenden und dann sofort links abbiegen in die gesperrte Straße. Ich fuhr nach rechts. Stefan schwieg eine Weile. Ich fuhr langsam, um ihm Zeit zum Überlegen zu lassen. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr genau. Ich erkannte nicht einmal die Straßen und Häuser wieder, die ich hätte erkennen müssen, alles schien fremd, schön fremd, die hellen Villen mit ihren leuchtenden Dächern, parkähnliche Straßen, das Lichtspiel der Sonne durch das Geäst hoher Bäume. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren. Stefan ordnete mal rechts, mal links an; mal folgte ich ihm und mal nicht, je nachdem, ob mir seine Anweisung richtig erschien oder nicht. Wir verstanden uns nicht. Als ich einen ausreichend großen und schattigen Parkplatz sah, hielt ich an, öffnete das Fenster, zündete mir eine Zigarette an und schaltete das Radio ein. Die Moderatorin verabschiedete gerade einen Lebens- mittelexperten und die unvermeidliche Köchin Sarah Wiener, die über das Thema »Unser täglich Gift gib uns heute« diskutiert hatten. Ich schloss meine überhitzten Augen und überließ mich für eine Weile einer dunklen, nur hin und wieder von roten Blitzen durchzuckten Ruhe, bis plötzlich aus dem Radio Olgas Stimme zu mir sprach. Es ist elf Uhr, sagte Olga, jetzt kommst du zu spät zu meiner Beerdigung. Dann ertönten einige Pfeiftöne, und eine männliche Stimme kündigte die Nachrichten an. Ich schaltete zuerst das Radio aus, danach beendete ich meine Kommunikation mit Stefan. Es war zu spät. Der Schreck, Olgas Beerdigung zu verpassen, wich in Sekunden einem Gefühl großer Erleichterung. Ich musste weder Bernhard noch Andy treffen, ich musste nicht Fanny als Tochter ihres Vaters erleben, ich musste keine Trauerreden hören und keine gehauchten Trauerbekundungen. Die allgemeine Tränenseligkeit bei Begräbnissen war mir peinlich. Meiner Mutter hatte ich verbieten wollen, beim Begräbnis vom Genossen Keller zu weinen. Weine vorher oder nachher, aber nicht da, habe ich gesagt. Das war herzlos, aber sie hat an diesem Tag weder vorher noch nachher geweint, nur auf dem Friedhof. So war es immer. Bis zum Friedhofseingang sprachen die Menschen ungeniert über die Banalitäten ihres Alltags, den überstandenen Schnupfen, den bevorstehenden Urlaub oder einen gelungenen Gänsebraten. Sobald sie die geweihte Erde unter den Füßen spürten, griffen sie nach den Taschentüchern, verzogen sich ihre Gesichter zu Trauergrimassen mit einem angespannten, jederzeit zum Weinen bereiten Mund und Augen, in denen außer dem Jammer auch immer ein Vorwurf zu lesen war, an Gott, an das Schicksal, je nachdem, woran derjenige glaubte. Und wenn sie den Friedhof verließen, meistens aber schon während sie ungeduldig darauf warteten, dem Toten ihre drei Hände voll Sand hinterherzuwerfen, legten sie ihre Trauer ab wie unnütze Regenbekleidung nach dem Gewitter. Aber diese halbe Stunde, in der sie alle Rituale der Trauer wie ein Gesetz vollzogen, schien sie zu erleichtern. Mir war eine solche Erleichterung nicht vergönnt. Mein Entsetzen über den Tod ließ sich nicht in Tränen auflösen, weil es nichts war als eine echolose, jedes Gefühl verschlingende Leere, der ich mich nur starr und fassungslos ergeben konnte. Wahrscheinlich hätten mich die
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