Zwischenspiel: Roman (German Edition)
mehr gesehen, auch Bernhard nicht, vor allem Bernhard nicht.
Als Fanny mir vor fünf oder sechs Jahren zum ersten Mal von ihrem Besuch bei Bernhard erzählte, hatte ich ohne nachzudenken gefragt: Was wolltest du denn da? Fanny zog die Augenbrauen hoch, reckte kampfbereit ihren schmalen Hals und sagte: Er ist mein Vater. Danach hatte ich meine Tochter nicht mehr nach Bernhard gefragt. Ich nahm es hin, dass für Fanny der Vater wichtiger war als sein Verrat. Es ging mich nichts an. Natürlich ging es mich etwas an, denn ich allein hatte Bernhard zu Fannys Vater werden lassen. Aber das war in einem anderen Leben passiert, an das ich mich kaum erinnern konnte. Nur Olga und Fanny hatte ich aus diesem Leben mitgenommen. Bernhards Mutter und Bernhards Tochter, aber Bernhard selbst hatte ich vergessen. Ich wusste, dass ich drei Jahre mit ihm gelebt hatte, an unsere Wohnung erinnerte ich mich genau, zwei große sonnige Zimmer in einem heruntergekommenen Haus in der Wörther Straße, ich wusste, wie Bernhard aussah, damals, und dass er Gitarre spielte; viel mehr nicht. Er lag in meinem Gedächtnis irgendwo archiviert, vergraben unter Späterem, das auch vergraben war unter noch Späterem, eine Erinnerungsleiche, farblos, geruchlos, kalt. Dass er der Vater meines einzigen Kindes war, sah ich als eine emotionsfreie Tatsache an, der ich nur für den Fall einer eines Tages vielleicht notwendigen Knochenmark- oder Organspende für meine Tochter Bedeutung zumaß. Ich hatte von Bernhard niemals Geld oder Verantwortung für Fanny verlangt, nachdem ich ihn verlassen hatte. Wenn ich mit dem Kind ohne seinen Vater leben wollte, musste ich auch allein dafür sorgen. So jedenfalls erklärte ich mir und anderen damals meinen Verzicht.
Seit einer Woche, seit ich wusste, dass ich Bernhard an Olgas Grab treffen würde, rumorte es in den Verliesen meiner verbannten Erinnerungen. Ungebeten tauchten Bilder auf, Andy mit einem Verband um den kleinen Kopf, mit dem er vom Fahrrad gegen die Kühlerhaube eines Lastwagens gestürzt war und sich dabei den Schädel aufgeschlagen hatte. Frontalhirnsyndrom, eine Schädigung des vorderen Stirnhirns. Mit blindem Blick lag er in seinem Bett, eine Nadel in dem weichen Handrücken, durch die eine Nährlösung in den kleinen Körper floss.
Andy war Bernhards Sohn, den er kurz nach dem Abitur mit einer drei Jahre älteren Kellnerin, die außerdem Gedichte schrieb, gezeugt hatte. Das Kind lebte bei seiner Mutter, an den Wochenenden brachte sie es oft zu Bernhard, der noch bei seinen Eltern wohnte. Für Olga war Andy wie ein dritter, nicht mehr erwarteter Sohn. Madeleine, so hieß die Mutter, ließ ihn immer öfter auch während der Woche bei Olga, bis sie ihn eines Tages überhaupt nicht abholte und tagelang nicht erreichbar war. Nach einer Woche rief sie an, sie sei in Westberlin, mehr könne sie nicht sagen, es tue ihr alles furchtbar leid, aber Andy sei bei Olga und Bernhard bestimmt besser aufgehoben. Andy blieb bei Olga, auch als Bernhard eine eigene Wohnung bekam. Später, als Bernhard und ich zusammenzogen, wollte Andy bei seinen Großeltern bleiben. Damals lebte Hermann noch.
Nach Andys Unfall zog Olga zu ihm ins Krankenhaus, fütterte ihn, wusch ihn, las ihm Geschichten vor. Als er aus dem Koma erwachte, brachte sie ihm wieder das Laufen und Sprechen bei, sie massierte seine verkrampften Hände, ließ sich von der Physiotherapeutin einweisen, turnte mit ihm. Vier Monate lang half sie ihrem Enkelsohn zurück ins Leben. Als sie mit ihm wieder nach Hause kam, war sie mager und entkräftet.
Fanny war noch nicht einmal ein halbes Jahr alt, als Bernhard erklärte, Andy werde künftig bei uns leben, er werde nie wieder sein wie vor dem Unfall, seine Mutter schaffe das nicht mehr. Auf dem Wohnungsamt, wo wir eine größere Wohnung beantragten, sagte man uns, dass unverheiratete Paare keinen Anspruch auf eine gemeinsame Wohnung hätten. Beim Standesamt bekamen wir einen Termin in vier Wochen. Zwei Wochen vor der Hochzeit nahm jemand mich mit zu einer Haschischparty. Ein Typ aus Westberlin hatte Stoff für zehn Personen über die Grenze geschmuggelt und gab einen Einführungskurs in die Kunst des Haschischrauchens. Er zeigte uns, wie man die Zigarette richtig halten musste, und hatte die passende Musik mitgebracht, ich wusste nicht mehr, welche. Wir lagen nebeneinander auf Kissen und Decken und überließen uns erwartungsvoll dem Rausch. Allmählich versanken das Zimmer, die Menschen, nur die Musik schloss
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