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Zwoelf Erzaehlungen

Zwoelf Erzaehlungen

Titel: Zwoelf Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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spät?« Da fiel ihnen beiden ein Trauriges ein; ihr – der Platz am Fenster, an dem sie tagaus tagein nähte; man sah eine häßliche, schwarze Feuermauer von dort und niemals Sonne. Ihm – sein Tisch, voll mit Lateinheften, auf dem aufgeschlagen lag “Platon, symposion” . Die beiden Menschen schauten vor sich hin, und ihre Blicke gingen derselben Fliege nach, welche durch die Rillen und Runen der Betbank pilgerte.
    Sie sahen sich in die Augen.
    Anna seufzte.
    Fritz legte leise und hütend den Arm um sie und sagte: »Wer doch so fort könnte.«
    Anna blickte ihn an und sah die Sehnsucht, die in seinen Augen leuchtete. Sie senkte die Lider, wurde rot und hörte:
    »Überhaupt sie sind mir verhaßt, gründlich verhaßt. Weißt du: wie sie mich ansehen, wenn ich von dir komme. Sie sind lauter Mißtrauen und Schadenfreude. Ich bin kein Kind mehr. Heut oder morgen, wenn ich was verdienen kann, gehen wir zusammen, weit fort. Allen zum Trotz.«
    »Hast du mich lieb?« Das blasse Kind lauschte. »Unbeschreiblich lieb.« Und Fritz küßte ihr die Frage von den Lippen.
    »Wird das bald sein, daß du mich mit dir ninimst?« zögerte die Kleine. Der Gymnasiast schwieg. Er hob unwillkürlich den Blick, ging der Kante des plumpen Sandsteinpfeilers nach und las über dem alten Stationsbild: »Vater vergieb ihnen…«
    Da forschte er ärgerlich: »Ahnen sie was bei dir zu Haus?«
    Er drängte die Anna: »Sag.«
    Sie nickte ganz leis.
    »So«, wütete er,» ich sags ja, also doch. Diese Klatschbasen. Wenn ich nur …« Er grub den Kopf in die Hände.
    Anna lehnte sich an seine Schulter. Sie sagte einfach:
    »Sei nicht traurig.«
    So verharrten sie.
    Plötzlich sah der junge Mensch auf sind sagte:
    »Komm fort mit mir!«
    Anna zwang ein Lächeln in ihre schönen Augen, welche voll Tränen waren. Sie schüttelte den Kopf und sah sehr hilflos aus. Und der Student hielt wieder wie früher ihre winzigen Hände, die in schlechten Handschuhen staken. Er sah in das lange Hauptschiff hinein. Die Sonne war erloschen, und die bunten Glasfenster waren häßliche, mattfarbene Kleckse. Es war still.
    Dann begann hoch in der Halle ein Piepsen. Beide schauten auf. Sie bemerkten eine verirrte kleine Schwalbe, welche mit müden, ratlosen Flügeln das Freie suchte.
    Auf dem Heimweg dachte der Gymnasiast an ein verabsäumtes lateinisches Pensum. Er beschloß, noch zu arbeiten, trotz des Widerwillens, den er hatte, und trotz aller Müdigkeit. Aber fast unwillkürlich machte er einen großen Umweg, verirrte sich sogar ein wenig in der sonst gut bekannten Stadt, und es war Nacht, als er in seine enge Stube trat. Auf den Lateinheften lag ein kleines Briefchen. Er las bei der unsicher flackernden Kerze:
    »Sie wissen alles. Ich schreibe Dir unter Tränen. Der Vater hat mich geschlagen. Es ist schrecklich. jetzt lassen sie mich nie mehr allein ausgehen. Du hast recht. Komm fort. Nach Amerika oder wohin Du willst. Ich bin morgen früh um sechs Uhr auf der Bahn. Da geht ein Zug.
    Vater fährt immer auf die Jagd damit. Wohin – weiß ich nicht. Ich schließe. Es kommt jemand.
    Also erwarte mich. Bestimmt. Morgen um sechs. Bis in den Tod
    Deine Anna.
    Es war niemand. Wohin, glaubst Du, gehen wir? Hast Du Geld? Ich habe acht Gulden. Diesen Brief schick ich Dir durch unser Dienstmädchen an das euere. Mir ist jetzt gar nicht mehr bang.
    Ich glaube, Deine Tante Marie hat geklatscht.
    Sie hat uns also Sonntag doch gesehen.«
    Der Gymnasiast ging in großen und energischen Schritten auf und nieder. Er fühlte sich wie befreit. Sein Herz pochte heftig. Er empfand auf einmal: Mann sein. Sie vertraut sich mir an. Ich darf sie beschützen. Er war sehr glücklich und wußte: Sie wird mir ganz gehören. Das Blut stieg ihm in den Kopf. Er mußte sich setzen, und dann kam ihm in den Sinn: Wohin?
    Diese Frage wollte nicht schweigen. Fritz übertönte sie dadurch, daß er aufsprang und Vorbereitungen machte. Er legte ein wenig Wäsche und ein paar Kleider zurecht und preßte die ersparten Guldenscheine in das schwarze Ledertäschchen. Er war voll Eifer, schob ganz unnütz alle Laden auf, nahm Gegenstände und trug sie wieder an ihren alten Platz, warf die Hefte vom Tische in irgend eine Ecke und zeigte seinen vier Wänden mit prahlerischer Deutlichkeit: Hier ist Auswanderung, Schluß.
    Mitternacht war vorbei, als er am Bettrand niedersaß.
    Er dachte nicht ans Schlafen. angekleidet legte er sich hin, nur weil ihn, wahrscheinlich vom vielen Bücken, der Rücken schmerzte.

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